Irak, Syrien, Libanon "Die derzeitige Ordnung in Nahost liegt in Trümmern"

Kairo/Bagdad/Damaskus · Vor fast 100 Jahren zogen Franzosen und Briten die Grenzen neuer Staaten im Nahen Osten am Reißbrett. Nun rächt sich die Ignoranz ethnischer und religiöser Grenzen. Militärische Auseinandersetzungen sind die Folge.

Chronologie des Aufstiegs des IS im Irak
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Foto: afp, FC

Für die sunnitische Terrormiliz Islamischer Staat im Irak und Syrien (Isis) ist die Grenze zwischen den beiden Staaten nicht existent. Denn auf beiden Seiten, in einem Kernland der Sunniten, soll das islamische Kalifat liegen, das Isis errichten will. Fast hundert Jahre nachdem Frankreich und England das zerfallende Osmanische Reich filetierten, bedrohen Bürgerkrieg, Glaubensstreit und nicht zuletzt politische Versäumnisse das zerbrechliche Gefüge des Nahen Ostens.

Bereits jetzt bilden sich dort neue De-facto-Staaten, wie jener von Isis, der quer durch das Zentrum des Nahen Ostens reichen soll. Die weitgehend autonomen Kurden wollen ohnehin ihren eigenen Staat im Norden des Iraks und womöglich einen weiteren im Nordosten Syriens, wo sie in den Wirren des Bürgerkriegs mittlerweile die Kontrolle übernommen haben.

Es bliebe ein Rumpfstaat Syrien rund um Damaskus, naheliegende Städte und die Mittelmeerküste, den Machtzentren von Präsident Baschar al-Assads Alawiten, einer Splittergruppe der Schiiten. Und ein schiitischer Irak rund um Bagdad und weiter im Süden.

"Die derzeitige Ordnung liegt in Trümmern"

"Die derzeitige Ordnung liegt in Trümmern", sagt Fawaz Gerges, Professor an der London School of Economics. Grund sei, dass die Regierungen der Region für die ethnischen und religiösen Differenzen keine Lösungen parat hätten. Die neuen Grenzen, die nun im Nahen Osten mit Waffengewalt durchgesetzt werden, werden wohl nie anerkannt werden, doch angesichts der schwachen Zentralregierungen dürfte das wenig Unterschied machen.

In den Jahrzehnten seit ihrer Unabhängigkeit haben arabische Regierungen die von Briten und Franzosen geschaffenen Staatenkonstrukte oft mit Hilfe autokratischer Herrschaft aufrechterhalten. Doch der Arabische Frühling hat in vielen Ländern die Karten neu gemischt. Die lange schwelende Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten, den rivalisierenden islamischen Glaubensgruppen, wurde etwa in Syrien bald zum bestimmenden Element des Bürgerkriegs. Und im Irak brach sie bereits in den Jahren nach dem Sturz Saddam Husseins offen hervor.

Der Traum vom sunnitischen Kalifat ist für Isis mit seinen jüngsten Eroberungen der Städte Mossul und Tikrit deutlich realistischer geworden. Die Gruppe kontrolliert bereits weite Teile Ostsyriens entlang dem Euphrat und vereinzelt auch Gebiete weiter im Westen Richtung Aleppo. In Rakka, der größten Stadt Syriens, die Isis kontrolliert, verlangen die Dschihadisten Steuern und setzten ihre strenge Version des islamischen Rechts, der Scharia, um.

Historisch haben Rakka, Mossul und das darum liegende Nordmesopotamien - auch Dschasira genannt - mehr miteinander gemein als mit Südmesopotamien rund um Bagdad und Basra. Die Routen, über die Isis Waffen und Kämpfer über die Grenze schmuggelt, sind die selben Handelswege, die die ersten Städte in den Tälern des oberen Tigris und des Euphrat vor 5000 Jahren miteinander verbanden.

Angesichts des Vormarschs der Dschihadisten übernahmen die weitgehend autonomen Kurden im Nordirak auch die Kontrolle über die ethnisch gemischte Stadt Kirkuk, angeblich um sie zu verteidigen. Aber auch sie könnten sich durch das Chaos im Irak in ihrer Hoffnung auf einen eigenen unabhängigen Staat bestärkt sehen und die Stadt nicht mehr verlassen.

1916: Neue Grenzen durch den Sykes-Picot-Deal

Die derzeitigen Grenzen des Nahen Ostens haben ihren Ursprung in dem geheimen Sykes-Picot-Abkommen zwischen Großbritannien und Frankreich im Jahr 1916. Aus dieser Vereinbarung und aus weiteren Verträgen nach dem Ersten Weltkrieg entstanden schließlich der Libanon, Syrien, der Irak, Jordanien und das britische Mandat für Palästina, das den Weg für den Staat Israel ebnete.

Die Interessen der dort lebenden Menschen wurden dabei kaum berücksichtigt. Das mehrheitlich sunnitische Mossul etwa wurde gemeinsam mit den Kurdenregionen weiter im Norden und mit Bagdad und dem mehrheitlich schiitischen Süden zum heutigen Irak zusammengeworfen. Syrien entstand aus den einstigen osmanischen Provinzen Aleppo und Damaskus und den lange davon abgetrennten, überwiegend alawitischen Küstenregionen.

Der Libanon wurde als christliches französisches Protektorat abgetrennt, mit einigen sunnitischen und schiitischen Regionen - eine Mischung, die schließlich zu einem Bürgerkrieg und nach wie vor anhaltenden Unruhen führte. Städte wie Akkon, Haifa und Nazareth, die historisch eher mit Gegenden im heutigen Libanon und Syrien verbunden waren, kamen zum Mandatsgebiet Palästina und liegen heute in Israel.

Der wohl künstlichste Staat war Jordanien. Nach einem alten Witz zog Winston Churchill die Grenze zwischen dem Staat und Saudi-Arabien betrunken, deshalb verläuft sie jetzt im Zick-Zack. Trotz der Willkürlichkeit, die Amman mit Wüstengegenden im Osten und Süden verband, ist Jordanien noch das stabilste der Länder im Nahen Osten. Und auch andere wie der Libanon, wo während des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 ein Auseinanderbrechen in Mini-Staaten befürchtet worden war, existieren noch. Auch wenn dort Syrien über Jahre hinweg das Sagen hatte und die schiitische Hisbollah ungehindert die Grenze überquert.

Trotz der von den Kolonialherren gezogenen Grenzen entwickelten sich durchaus nationale Identitäten und Nationalstolz der Jordanier, Iraker oder Syrer heraus. Und viele dort wollen das auch nicht ändern. Die Weltmächte haben ohnehin kein Interesse an einer neuen Grenzziehung, doch sie können sich durchaus föderale Staaten mit mehr Autonomierechten vorstellen.

Mit De-Facto-Enklaven wie jener von Isis dürften sie sich allerdings nicht anfreunden können. Die Grenzen des Isis-Gebiets seien allerdings bereits jetzt real, sagt Paul Salem, Vizepräsident des Middle East Institute. "Steuern werden erhoben, eine Streitmacht hat die Kontrolle, es gibt nur keine Formalisierung."

(ap)
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