Warum wagte der Pilot die Landung? Der Todesflug der Tupolew 154

Warschau/Smolensk (RP). Nach dem Tod von Präsident Lech Kaczynski und zahlreichen weiteren Mitgliedern der polnischen Elite bei dem Flugzeungabsturz bei Katyn ringt das Land um Fassung. Zunehmend wird auch in Warschau offen spekuliert, warum der erfahrene Pilot der Todesmaschine trotz aller Warnungen die Landung wagte. Möglicherweise folgte er einer Anweisung Kaczynskis.

Polen trauert um Kaczynski
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Zwischen den Startvorbereitungen und dem tragischen Absturz lagen nur knapp zwei Stunden. Trotz schlechter Sichtverhältnisse und einer Warnung der Fluglotsen unternahm Kapitän Arkadiusz Protasiuk vier Anflugversuche. Experten vermuten, dass dem Piloten schon nach dem zweiten klar war, dass eine Landung unmöglich war. Ein Protokoll.

Flughafen Warschau-Okence, 7.05 Uhr: Flugkapitän Arkadiusz Protasiuk geht mit seinem Co-Piloten Robert Marek Grzywna die Checklisten durch. Der 36-jährige Offizier ist seit 13 Jahren beim Spezialdienst für Regierungsflüge; seit dem vergangenen Jahr ist er der Chef im Cockpit. Sowohl er als auch der Co-Pilot gelten als erfahren. Protasiuk weiß aber auch, dass er auf einem Schleudersitz arbeitet, wenn Präsident Lech Kaczynski an Bord ist. Einer seiner Vorgänger hatte sich im Sommer 2008 aus Sicherheitsgründen geweigert, die Präsidenten-Maschine nach Georgien zu fliegen. Er landete in einem Nachbarland, Kaczynski musste mit dem Auto weiterreisen — und tobte. Der Präsident warf den Piloten wegen Befehlsverweigerung raus. An diesem Morgen sieht nichts nach Problemen aus.

Smolensk, zwischen 8 und 8.30 Uhr: Die Wetterverhältnisse am Flughafen Smolensk werden schlechter, dichter Nebel steigt auf. Die Sicht beträgt ungefähr 400 Meter. Für eine sichere Landung sollte sie mindestens 1000 Meter betragen. Ein russisches Flugzeug, das ebenfalls Menschen an Bord hatte, die an der Gedenkfeier in Katyn teilnehmen wollten, entschließt sich aus diesem Grund, die Landung abzubrechen und nach Moskau zu fliegen. Zur gleichen Zeit empfiehlt das russische Bodenpersonal laut eigener Aussage auch der Tu-154-Besatzung, von einer Landung in Smolensk abzusehen. Ihnen wird nahegelegt, den rund 200 Kilometer entfernten Flughafen im weißrussischen Minsk oder den Moskauer Flughafen anzufliegen. Der Pilot will davon laut russischen Medienberichten nichts hören. Wäre er ausgewichen, hätten es seine Passagiere nicht mehr pünktlich zur um 10 Uhr beginnenden Gedenkfeier für die 22 000 ermordeten Polen in Katyn geschafft. Er unternimmt einen Landeversuch, dreht dann ab, versucht es wieder. . .

Experten gehen davon aus, dass Kapitän Protasiuk nach dem zweiten vergeblichen Anflug klar gewesen sein muss, dass diese Landung auf einer Piste ohne elektronisches Leitsystem nicht zu schaffen ist. Warum fliegt er noch zwei Mal an, warum geht er immer tiefer? Massiver Druck auf seine Entscheidung ist nur eine mögliche Erklärung. Fachleute gehen davon aus, dass die Maschine beim zweimaligen Durchstarten extrem viel Kerosin verbraucht hat — hat Protasiuk zu diesem Zeitpunkt vielleicht gar nicht mehr genug Sprit an Bord, um einen Ausweichflughafen zu erreichen? Ist die Katastrophe nach der ersten Fehlentscheidung unausweichlich?

Smolensk, 8.56 Uhr: Zeugen berichten, dass die Präsidenten-Maschine lange Zeit über dem Flughafen kreist. Insgesamt drei Mal soll der Pilot versucht haben, die Landebahn zu erreichen. Beim vierten Versuch passiert es dann: Die Tupolew ist noch 1,5 Kilometer vom Flughafen entfernt. In einem Bereich, in dem Flugkapitän Arkadiusz Protasiuk seine Maschine noch mindestens 60 Meter über den Boden halten sollte, beginnt sich diese nach links zu neigen und streift mit dem linken Flügel die Baumkronen in einer Höhe von rund acht Metern. Die Tupolew ist da nicht mehr unter Kontrolle zu bringen. Sie rast in den Wald, zerbricht in mehrere Teile, fängt Feuer.

Warschau, 9.36 Uhr: Das Ministerium ergänzt, dass die Rettungsmaßnahmen laufen.

Smolensk, 10 Uhr: Eine erste Opferzahl wird bekannt: Die polnischen Medien sprechen von 88 Personen, die russischen Medien von bis zu 132 Toten. Zur gleichen Zeit wird bekannt, dass Präsident Lech Kaczynski und seine Frau Maria den Flug nicht überlebt haben.

Katyn, 10 Uhr: Nun beginnt die Gedenkfeier. Die Nachricht vom Flugzeugabsturz erreicht die Teilnehmer wenige Minuten vorher. Unter ihnen sind viele Polen, die mit einem extra bereitgestellten Zug nach Katyn gekommen sind. Viele Menschen brechen in Tränen aus, die Sitze der Verunglückten bleiben leer, auf ihnen liegen kleine polnische Flaggen. Die von den anwesenden Journalisten befragten Politiker zeigen sich fassungslos, weinen um ihre Kollegen und "Freunde". Polnische Sender unterbrechen ihr Programm für eine Sondersendung. Zwischenzeitlich taucht die Meldung von möglichen drei Überlebenden auf, die in ein Krankenhaus nach Smolensk gebracht worden sein sollen.

Gegen 14 Uhr: Nach dem Tod Lech Kaczynskis übernimmt Parlamentspräsident Bronislaw Komorowski dessen Aufgaben bis zur Wahl eines neuen Staatsoberhaupts. Er hat jetzt 14 Tage Zeit, um einen Wahltermin zu verkünden. Komorowski ordnet eine einwöchige Staatstrauer an.

Gegen 14.30 Uhr: Premierminister Donald Tusk fliegt genauso wie der russische Ministerpräsident Wladimir Putin zur Unglücksstelle. Putin verspricht Hilfe und kündigt für heute Staatstrauer an.

Artur Szczepanski ist Chefredakteur der polnischen Tageszeitung "Express Bydgoski", die zur Mediengruppe RP gehört.

(RP)
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