Machtkampf in Kairo Der Tag der Ultimaten in Ägypten

Kairo · Präsident Mohammed Mursi und seine Muslimbrüder stehen jetzt offenbar von zwei Seiten massiv unter Druck.

Rauch steigt aus den Fenstern, die Scheiben sind eingeschlagen. Bürostühle liegen auf der Straße, an manchen Stellen brennt es noch. Am Morgen nach den Massenprotesten erobern Demonstranten das Hauptquartier der Muslimbruderschaft im Kairoer Stadtteil Mokattam. Bei stundenlangen Kämpfen wurden mindestens sieben Menschen getötet. Insgesamt sind bis jetzt 16 Tote und mehrere Hundert Verletzte durch die Unruhen zu beklagen.

Der Sturm auf das Hauptquartier ist ein schwerer Schlag für die regierenden Islamisten. Der nächste folgt am Nachmittag: Das Militär spricht ein Machtwort und fordert Regierung und Opposition auf, binnen 48 Stunden ihre monatelangen Streitigkeiten zu lösen und einen Kompromiss für die Zukunft des Landes zu finden. Ansonsten würden die Generäle die Regie übernehmen.

Über die Köpfe der Demonstranten, die sich auch gestern Abend zu Zehntausenden auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Kairos versammelt haben, fliegen Hubschrauber hinweg — mit riesigen ägyptischen Fahnen. Die Armee will offenbar signalisieren, dass sie aufseiten der Demonstranten steht. Als das 48-Stunden-Ultimatum des Militärs bekannt wird, jubeln die Regierungsgegner den Hubschraubern zu. Die Generäle wittern die Chance, Präsident Mohammed Mursi und die Muslimbrüder, die den Einfluss der Streitkräfte deutlich zurückgedrängt hatten, zumindest in die Schranken zu weisen.

Kampf zwischen Islamisten und Opposition

Es ist der Tag der Ultimaten für die Muslimbrüder und Mursi. Zuvor hatte die Protestbewegung "Tamarod" — die im ganzen Land 22 Millionen Unterschriften gegen Mursi gesammelt hatte — dem Staatschef bereits eine Frist gesetzt: Bis heute, 17 Uhr, solle er abtreten. Sie drohten mit Streiks und weiteren Protesten. Weitere Auseinandersetzungen dürften die Folge sein im neuen Machtkampf zwischen Islamisten und der Opposition.

Im Arabischen Frühling 2011 dauerte es 18 Tage, bis Langzeitpräsident Hosni Mubarak stürzte. Mehr als 800 Demonstranten starben damals. In den Köpfen vieler Ägypter hat nun ein neuer Countdown begonnen. "Wie lange noch wird sich Mursi halten?", fragen sie sich. Die Zukunft des bevölkerungsreichsten arabischen Landes (85 Millionen Einwohner) ist völlig ungewiss.

Dennoch unterscheidet sich die aktuelle Situation von der damals: Nach Beginn der Proteste im Januar 2011 hatte sich die ansonsten allgegenwärtige Polizei von den Straßen zurückgezogen. Es kam zu Massenausbrüchen aus den Gefängnissen. Schwerstkriminelle wie auch Islamisten kamen auf freien Fuß. Bürgermilizen versuchten Ordnung zu schaffen und Plünderungen zu verhindern. Eine derartige Eskalation gibt es derzeit noch nicht.

Mehrheit will Militärführung

Nach dem Sturz Mubaraks hatte das Militär schon einmal die Macht inne — was auf heftigen Widerstand der Opposition stieß. Inzwischen hat sich die Stimmung geändert: Eine Umfrage des soziologischen Forschungszentrums Ibn Chaldun vom Frühjahr ergab, dass die Mehrheit der Ägypter in der Rückkehr der Militärs an die Macht einen Ausweg aus der Krise sieht.

Schon im Vorfeld der Großdemonstrationen hatte Verteidigungsminister Abdel Fattah al Sisi erklärte, er werde ein sinnloses Blutvergießen nicht zulassen. Nach wie vor sind Mursi-Gegner und -Befürworter auf der Straße — die einen auf dem Tahrir-Platz, die anderen vor der Moschee im Stadtteil Nasr City.

Mursis Befürworter beharren auf der Legitimität seiner Amtszeit und sehen einen Wechsel lediglich durch Wahlen und nicht durch die Straße. "Er ist der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens", heißt es immer wieder am großen Platz, wo sich nach wie vor Tausende Pro-Mursi-Demonstranten versammelt haben. "Das ist doch das Ziel der Revolution."

Die Protestbewegung wirft Mursi vor, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht zu lösen, und befürchtet eine schleichende Islamisierung. Mursis Anhänger sehen die Krise als ideologischen Machtkampf — für oder gegen den Islam. Die Isolation, in die Mursi geraten ist, wurde auch durch den Rücktritt von fünf Ministern deutlich. Sie gehören nicht zu den Muslimbrüdern und sympathisieren offenkundig mit Mursis Gegnern. Die fünf waren zuständig für Tourismus, Telekommunikation, Umwelt, öffentliche Versorgungsunternehmen und parlamentarische Angelegenheiten.

(dpa/sve)
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