Gegängelte Minderheit in China Tibeter – die Pandabären der Weltgeschichte

Dharamsala · Nach 60 Jahren im Exil genießt der Dalai Lama international viel Sympathie. Aber für die Rechte seines Volks mag sich kaum ein Politiker engagieren.

 Kurz vor dem 60. Jahrestag der Flucht des Dalai Lama hat Peking alle Reisen ausländischer Touristen in die Region bis zum 1. April untersagt.

Kurz vor dem 60. Jahrestag der Flucht des Dalai Lama hat Peking alle Reisen ausländischer Touristen in die Region bis zum 1. April untersagt.

Foto: imago/Xinhua/imago stock&people

„Das Überschreiten der Grenze hatte nichts Dramatisches an sich. Das Land war auf beiden Seiten gleichermaßen öde und unbewohnt. Ich sah es nur durch einen Nebel, denn ich war krank, erschöpft und unglücklich – viel unglücklicher, als ich es zu sagen vermag.“ So erinnert der Dalai Lama an seine Flucht nach Indien vor 60 Jahren – eine Folge dramatischer Ereignisse. Mao Tsetung hatte die „Heimkehr Tibets ins chinesische Mutterland“ gefordert und die Volksbefreiungsarmee mobilisiert. Am 9. September 1951 erreichte sie die tibetische Hauptstadt Lhasa.

Acht Jahre lang arrangierte sich die traditionelle tibetische Verwaltung mit dem chinesischen Militär. Doch am 10. März 1959 eskalierten die Ereignisse, als der Dalai Lama nach Peking entführt werden sollte. Tausende strömten zum Palast, um ihr Oberhaupt zu schützen. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, aber dem Dalai Lama gelang mithilfe einer kleinen tibetischen Guerilla die Flucht. Anschließend zerstörte die Volksbefreiungsarmee alles, was sie vorfand: die Religion, die Kultur, die Familienstrukturen, sogar die wirtschaftliche Basis.

Für die geflohenen Tibeter öffnete sich dagegen eine neue Welt. Über zwei Jahrtausende wussten die Menschen in Tibet wenig von der Welt jenseits ihrer Schneeberge; und umgekehrt gab es kaum seriöse Informationen über Tibet. Die Isolation hat das tibetische Bewusstsein lange geprägt. Wo es bereits ein Abenteuer ist, das nächste Tal zu erreichen, ist Mobilität nicht unbedingt ein hohes Gut.

Nun aber mussten sie sich im Exil einrichten und weltweite Unterstützung im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner mobilisieren. Ausgangspunkt dafür wurde das indische Dharamsala in den Südausläufern des Himalaya. In den engen Gassen des Ortsteils McLeod Ganj erlebt man, welche zentrale Rolle die Religion noch immer spielt. Zwar reiht sich Geschäft an Geschäft, doch in der Mitte der Einkaufszone steht die Namgyal-Stupa, ein Tempel mit großen Gebetstrommeln, der von morgens bis abends Gläubige anzieht. Unbeirrt vom Treiben auf der Straße umrunden sie das Heiligtum und murmeln dabei „O mani padme hum“ (O, du Juwel in der Lotusblüte), die alte Lobpreisung des Dalai Lama.

Auch nach 60 Jahren im Exil ist der Dalai Lama noch immer die zentrale Figur im tibetischen Freiheitskampf. Er vertritt strikte Gewaltfreiheit und wurde dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Manche zweifeln jedoch an der Strategie. Es ist ein Dilemma: Kaum einem Volk wird weltweit so viel Sympathie entgegengebracht; und kaum eines hat politisch so wenig erreicht. In den Exilgemeinden kursiert deshalb ein böser Spruch: „Wir sind die Pandabären der Weltgeschichte. Jeder liebt uns, aber keiner tut etwas für uns.“

Zwar gibt sich niemand der Illusion hin, die Volksbefreiungsarmee vom Dach der Welt vertreiben zu können, aber militante Aktionen sollen dazu beitragen, die Tibeter politisch ernst zu nehmen und das „Pandabär-Image“ abzulegen.

Eine andere Nobelpreisträgerin stellt sich derartigen Gedankenspielen jedoch entschieden entgegen: Rebecca Johnson, 2017 als Vertreterin der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen geehrt, fragt: „Was sind die Alternativen? Im benachbarten Xinjiang haben sich einige uigurische Aktivisten der Gewalt verschrieben. Damit haben sie China in die Hand gespielt und viel internationale Unterstützung verspielt. Die Gewalt hat ihre Situation also noch schlimmer gemacht. Die öffentliche Meinung der Welt möchte, dass Tibet selbstständig wird. Das ist eine gute Basis für den gewaltfreien Kampf.“ Wirtschaftliche Boykottkampagnen oder eine engere Zusammenarbeit mit Klimaaktivisten hält sie für sinnvolle Strategien.

Doch die Tibeter spüren Chinas wachsenden Einfluss. Kaum ein bedeutender Politiker ist noch bereit, den Dalai Lama zu empfangen. Angela Merkel hat es zweimal gemacht, 2005 als Oppositionsführerin und 2007 als Kanzlerin. Die Wirtschaft war empört. „Um des Applauses einiger Gutmenschen willen gefährdet sie unsere Chancen auf dem chinesischen Markt“, ließ ein hochrangiger Vertreter in Peking verlauten. Das wirkte, ein Empfang des Dalai Lama steht seitdem nicht mehr auf Merkels Agenda.

Etwa eine Viertelmillion Tibeter lebt im Exil, davon die Hälfte in Indien. Die Zukunft ihrer Landsleute unter chinesischer Herrschaft ist ungewiss. Ihre Kultur wird zwar nicht mehr offen bekämpft, aber weitgehend auf Folklore reduziert. Und alles in Tibet wird aufs Engste kontrolliert. So erließ Peking kurz vor dem Jahrestag der Flucht des Dalai Lama ein Besuchsverbot für ausländische Reisende in die Region. Mögliche Proteste soll niemand sehen.

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