Ein Vorbild für Deutschland? So kamen die Niederländer zu ihrem Tempolimit

Düsseldorf/Den Haag · Deutschland diskutiert einmal wieder über ein Tempolimit. In den Niederlanden gibt es das seit Jahrzehnten – offiziell eingeführt, um die Zahl der Verkehrstoten zu minimieren. Dabei waren vor allem politische Machtspielchen der Grund.

 Ein Straßenwärter montiert ein Verkehrsschild an der A81. (Symbolbild)

Ein Straßenwärter montiert ein Verkehrsschild an der A81. (Symbolbild)

Foto: dpa/Patrick Seeger

Mitte der 60er Jahre besuchte eine niederländische Delegation des kurz zuvor gegründeten Allgemeinen Verkehrsdienstes Nordrhein-Westfalen. Die Niederländer suchten Rat und Hilfe. Der Motorisierungsboom spülte immer mehr Fahrzeuge auf die Straßen. Auch weil diese mittlerweile für die breite Bevölkerung erschwinglich wurden. Doch mit der Zahl der Autos und Lkw stiegen auch die Zahlen der Unfälle. Bis zu 3200 Menschen starben in jener Zeit jährlich auf niederländischen Straßen.

Die Kollegen in Deutschland hatten dasselbe Problem. Um mit den Verkehrssündern auf den Schnellwegen mithalten zu können, gründete man hierzulande die Autobahnpolizei, ausgestattet mit einer schmucken Porsche 356-Flotte. Die Niederländer waren begeistert und führten die PS-starken Flitzer ebenfalls ein. Doch die Unfallzahlen veränderten sich lediglich geringfügig. An ein Tempolimit dachte anfangs niemand. Es brauchte eine Ölkrise, um das zu ändern.

1973 erhöhten viele arabische Staaten den Ölpreis und verringerten gleichzeitig die Ölproduktion. Es war ein Schlag gegen den Westen. Länder, die Israel während des Jom-Kippur-Kriegs direkt unterstützt hatten – darunter die Niederlande –, bekamen die volle Härte zu spüren. Ihnen wurde der Ölhahn komplett abgedreht. Energiesparen war nun die Devise. Die niederländische Regierung rief ein freiwilliges Tempolimit aus, um den Spritverbrauch so gering wie möglich zu halten. Und die Niederländer hielten sich daran. Viele teilten ihr Auto mit anderen oder nahmen auf einer Fahrt gleich mehrere mit. Es entwickelte sich ein starkes Gemeinschaftsgefühl.

Dumm nur, dass die Regierung der Bevölkerung die Existenz großer Ölreserven zunächst verschwiegen hatte. Nach entsprechenden Presseberichten sahen die Niederländer es nicht mehr ein, sich an irgendwelche Tempolimits zu halten. Verkehrsminister Tjerk Westerterp fürchtete erneut einen höheren Ölverbrauch und regelte die Sache per Gesetz. Die Zahl der Verkehrstoten zu minimieren, schien ihm ein edles Anliegen. Also gab er an, die Regierung hätte sich deswegen schon früher, vor der Ölkrise, auf ein gesetzliches Tempolimit geeinigt. Die Ölkrise hätte die Umsetzung dann aber beschleunigt. Doch bei Weitem nicht jeder Niederländer kaufte Westerterp seinen mutmaßlich ehrenvollen Plan ab.

Am 6. Februar 1974 hatten die Niederländer ihr Tempolimit auf den Autobahnen, das damals bei 100 Stundenkilometern lag. Die Gesetze wurden in den folgenden Jahren immer wieder angepasst, blieben jedoch weitgehend erhalten. Die letzte Änderung erfolgte im Jahr 2012. Das Tempolimit auf Autobahnen wurde damals von 120 auf 130 km/h angehoben, auf Landstraßen gelten weiterhin 80 km/h.

Seit den 70er Jahren hat sich die Zahl der Verkehrstoten und -verletzten in den Niederlanden stark reduziert. 2017 waren es 613 Tote. Mit 3,6 Verkehrstoten pro 100.000 Einwohner belegen die Niederlande einen Spitzenplatz. Die aktuelle Mitte-rechts-Regierung will, dass die Zahl bis 2050 auf null geht. Etwaige Anpassungen des Tempolimits sind nicht ausgeschlossen.

Inwiefern die Richtlinien tatsächlich dazu geführt haben, dass es weniger Unfälle gibt, ist aber umstritten. So gab es im Jahr nach der Einführung des Tempolimits in den Niederlanden zwar rund 200 Unfalltote weniger, doch schon ein Jahr später, 1976, stieg die Zahl wieder um gut 100. In Deutschland lag die Zahl der Verkehrstoten pro 100.000 Einwohner 2017 beispielsweise bei 3,8 – also nur um 0,2 höher als in den Niederlanden zur selben Zeit. Etliche Verkehrsexperten halten eine Richtgeschwindigkeit dennoch für sinnvoll. Sie führe dazu, dass die Unfälle nicht so schwer ausfallen. Einfache Physik. Auch auf die Stauentwicklung wirkten sich Tempolimits grundsätzlich positiv aus, sagen die Fachleute. Häufiges Abbremsen und Beschleunigen begünstige einen Stau. Gleichmäßige Fahrten seien effizienter. Die Stauzahlen nehmen allerdings in Deutschland wie in den Niederlanden zu.

Ein weiteres häufig zitiertes Argument für ein Tempolimit ist der verminderte CO2-Ausstoß. Wenn Autos langsamer fahren, sinken Spritverbrauch und Schadstoffentwicklung. Das ist Fakt. Allerdings wären die Einsparungen wohl deutlich niedriger als erhofft. Laut Umweltbundesamt würde ein Tempolimit von 120 Stundenkilometern auf deutschen Autobahnen drei Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einsparen. Das wären rund 0,4 Prozent am gesamten CO2-Ausstoß. Im Vergleich zu den Niederlanden steht Deutschland im Verkehr zudem besser da. Die Kohlendioxid-Emissionen des Pkw-Verkehrs sind zwischen 1995 und 2017 um 0,5 Prozent gestiegen. In den Niederlanden waren es zwischen 1990 und 2017 zwölf Prozent.

Im vergangenen Oktober befahl das Zivilgericht von Den Haag den Niederlanden sogar, die CO2-Emissionen bis Ende 2020 um 25 Prozent zu reduzieren. Andernfalls drohen der Staatskasse empfindliche Zwangsgelder. Die Klage gegen den Staat hatte die Urgenda-Stiftung mit Sitz in Amsterdam im Jahr 2015 erhoben. Weltweit betrachtet stehen die Niederlande auf Platz 34 der Treibhausgasproduzenten – umgerechnet auf den Pro-Kopf-Verbrauch sogar auf Platz eins aller EU-Länder.

Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität Münster, glaubt dennoch an den Sinn eines Tempolimits. Zumindest für die Sicherheit im Verkehr. „Es hat definitiv etwas gebracht“, sagt der gebürtige Niederländer: „Einzig die Freundlichkeit im Verkehr scheint mir etwas gelitten zu haben.“ Weil die Menschen nicht mehr rasen könnten, würden sie sich anderweitig danebenbenehmen.

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