Coronavirus-Pandemie Warum es in Italien nicht ein Risikogebiet gibt

Rom · Italien wurde im Frühjahr hart von der Pandemie betroffen. Während in Spanien und Frankreich nun aber die Fallzahlen wieder nach oben schnellen, gibt es zwischen den Alpen und Sizilien nicht ein Risikogebiet. Das Land hat offenbar Lehren gezogen.

 Ministerpräsident Giuseppe Conte (M.) führt das Land durch die Krise. Eine Maske in der Öffentlichkeit zu tragen, ist normal – auch im Freien.

Ministerpräsident Giuseppe Conte (M.) führt das Land durch die Krise. Eine Maske in der Öffentlichkeit zu tragen, ist normal – auch im Freien.

Foto: dpa/Mauro Scrobogna

Diese Rolle ist Italien nicht gewöhnt. Das Land und sein Umgang mit der Corona-Krise werden als positives Beispiel hervorgehoben. Die Weltgesundheitsorganisation lobt Italiens Vorgehen. „Italien hat die Epidemie unter Kontrolle“, schrieb die „Financial Times“ vor Tagen. Da fühlte sich offenbar der britische Premierminister Boris Johnson zum Protest herausgefordert, in dessen Nation die Pandemie zunehmend unkontrolliert grassiert. „Wir lieben die Freiheit“, verteidigte Johnson den nicht immer konsequenten britischen Weg in der Pandemie-Bekämpfung. Das nahm wiederum Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella zum Anlass für einen Hinweis: „Wir lieben die Freiheit, aber Ernsthaftigkeit liegt uns auch am Herzen“, sagte das Staatsoberhaupt. Ernsthaftigkeit galt bislang nicht als italienisches Alleinstellungsmerkmal.

Doch die Pandemie hat Italien besonders früh und hart getroffen. Als Experten im Februar das Virus vor allem noch in China wähnten, hatte es sich bereits in Teilen der Lombardei ausgebreitet. Am 11. März verfügte Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte sogar einen kompletten Lockdown des Landes, der bis Ende Mai aufrecht erhalten wurde. So lange und so harte Maßnahmen hatte kein anderes EU-Land ergriffen. Die Bilder aus Bergamo und Umgebung gingen um die Welt. Überfüllte Krankenhäuser, Covid-19-Patienten, die nur notdürftig untergebracht werden konnten und Aufnahmen von Militärfahrzeugen, die Leichen zur Kremation in andere Städte transportierten. Diese Szenen erlebten die Italiener aus nächster Nähe, während die Nachbarn sich aus der Distanz schockiert zeigten. Offenbar wird der Ernst der Lage in Italien im Vergleich zu anderen EU-Staaten immer noch besonders gut erkannt.

Denn während die Infektionszahlen etwa in Großbritannien, Frankreich und Spanien immer unkontrollierter in die Höhe schießen, scheint die Situation in Italien weiterhin unter Kontrolle zu sein. Zuletzt 1700 Neuansteckungen pro Tag melden die Behörden hier durchschnittlich, damit liegt Italien in etwa auf dem Niveau der Bundesrepublik. Getestet werden in Italien etwa 100.000 Menschen pro Tag, nur zwei Prozent der Corona-Tests enden mit einem positiven Ergebnis. In Spanien mit täglich mehr als 10.000 Neuansteckungen sind 13 Prozent aller Tests positiv. Italien hat offenbar aus der ersten Pandemie-Welle gelernt, die besonders drastisch verlief. Ab Ende Mai wurden die ersten Lockerungen genehmigt, doch das immer nur Schritt für Schritt und nicht im Hauruck-Verfahren. Als Ende August die Ansteckungszahlen auf der Ferien-Insel Sardinien in die Höhe gingen, verfügte die Regierung die Schließung aller Diskotheken und Nachtlokale im Land. Für Ferien-Rückkehrer wurden etwa im Fährhafen Civitavecchia bei Rom Drive-In-Testanlagen eingerichtet. Betroffene berichten, die Tests hätten einwandfrei funktioniert. So konnte die Weiterverbreitung des Virus zumindest verlangsamt werden. In Schulen werden Mund-Nasen-Schutzmasken gratis an die Schüler verteilt.

Zudem verfolgt man in Italien bei den Corona-Tests die Strategie, insbesondere asymptomatische Fälle zu suchen. „Wenn es einen positiven Test gibt, werden alle Kontakte dieser Person getestet“, berichtet Andrea Crisanti, Mikrobiologe der Universität Padua. Das wahre Problem seien die asymptomatischen Fälle, sagt Crisanti. „Wenn man die nicht findet, funktioniert es nicht.“ Das heißt, auch Menschen ohne Symptome werden getestet, wenn sie Kontakt zu einem Infizierten hatten. Im Auftrag der Region Venetien verwendete Crisanti diese Methode bereits ab Februar im Ort Vo' Euganeo. Nun koordiniert Crisanti im Auftrag der ganzen Nation die Test-Strategie.

Dass Ministerpräsident Conte seit März per Dekret regiert, stößt den Menschen im Land kaum auf. Das Gesetzgebungsverfahren in Italien sieht dieses Vorgehen vor, Dekrete müssen dann vom Parlament nachträglich bestätigt werden. Soeben beschloss die Regierung die Verlängerung der Schließung der Nachtlokale bis Anfang Oktober, Betreiber sollen entschädigt werden. Angesichts der Dringlichkeit gibt es keine Proteste gegen diese Politik im Hauruck-Modus, Bedenken gegen einen übermächtigen Staat gibt es in Italien kaum. Stattdessen konnte der 56-jährige Premier während der Pandemie seine Beliebtheit enorm steigern. Conte wird nicht müde zu versichern, dass es einen zweiten kompletten Lockdown in Italien nicht geben werde. In Spanien oder Frankreich ist das im Moment nicht ausgeschlossen. Eine entsprechende Maßnahme wäre gleichwohl verheerend für die sich gerade wieder erholenden Volkswirtschaften.

Entscheidend für Italiens derzeitigen Erfolg bei der Pandemie-Bekämpfung scheinen aber vor allem die Italiener selbst zu sein. Skepsis gibt es kaum. Zu der einzigen Protest-Aktion gegen die Regierung kamen vor Wochen gerade einmal 2000 Demonstranten zusammen. Im Übrigen halten sich die meisten Landsleute ausgesprochen diszipliniert an die Vorgaben, insbesondere das Tragen von Gesichtsmasken, wenn der Abstand nicht einzuhalten ist. Der Schock aus dem Frühjahr sitzt offenbar tief. Und so ist Italien eines der wenigen Länder in Europa, für die zurzeit kein Corona-Risikogebiet ausgewiesen ist.

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