Corona-Pandemie Frankreichs Preis für einen Schlingerkurs

Analyse | Paris · Frankreich wurde von der Corona-Krise härter getroffen als Deutschland. Präsident Macron reagierte zuerst zu spät, dann zu hart – und schließlich zu nachsichtig. Währenddessen steckt das Land mitten in der zweiten Welle.

 Ein Mann betreibt auf einer Brücke mit Blick auf den Eiffelturm Nordic Walking und trägt dabei einen Mundschutz.

Ein Mann betreibt auf einer Brücke mit Blick auf den Eiffelturm Nordic Walking und trägt dabei einen Mundschutz.

Foto: dpa/Thomas Coex

Die deutsche Warnung vor Reisen nach Paris oder an die Côte d’Azur war für Frankreich in der vergangenen Woche ein harter Schlag. Und zwar nicht nur für die Tourismusbranche, sondern auch für das Selbstverständnis einer Nation, die gerne auf Augenhöhe mit ihrem rechtsrheinischen Nachbarn verkehrt. Schon vor Wochen, als Paris für 2020 einen Wachstumseinbruch von 14 Prozent, Berlin aber weniger als 9 Prozent ankündigte, kommentierte der Pariser Historiker Marcel Gauchet bitter: „Frankreich spielt nicht mehr in der gleichen Liga wie Deutschland.“

Das spiegelt sich auch an der Virusfront wieder. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen ist in Frankreich derzeit etwa siebenmal so hoch wie in Deutschland. Am vergangenen Freitag gab es mit 8975 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden einen neuen Rekord. Derzeit sind 28 Départements und Übersee-Départements als „Rote Zonen“ eingestuft, allein am Wochenende kamen sieben neue hinzu, in denen die Zahl der Infektionen derzeit stark ansteigt. Das ist erstaunlich, weil die regionalen Vorgaben der deutschen und französischen Behörden – und deren Missachtung – zumindest auf den ersten Blick ähnlich scheinen.

Trotzdem scheint Frankreich von der zweiten wie schon von der ersten Welle stärker betroffen zu sein als Deutschland. Warum, das ist gar nicht so offensichtlich. Es war nicht nur Disziplinlosigkeit, aber auch nicht nur Pech – wie im Elsass, das im April nach einer Veranstaltung einer Evangelikalen Kirche zu einem Infektions-Hotspot wurde. Die Ursachen für die hohen französischen Zahlen liegen weiter zurück als die Pandemie selbst.

In den vergangenen Jahren hatten die französischen Gesundheitsbehörden ganze Schutzmaskenbestände wegen abgelaufener Haltbarkeitsdaten vernichtet. Ersetzt wurden sie aus Spargründen nicht. „Die Regierung wusste, dass sie einer Pandemie nicht gewachsen wäre“, erklärte im Juli Eric Ciotti, Leiter einer ersten parlamentarischen Untersuchungskommission.

Noch im März erzählten die Pariser Minister – wie ihre Amtskollegen in Berlin – im Fernsehen, das Tragen von Schutzmasken sei gar nicht sinnvoll. Als die „Staatslüge“ – so bezeichnete es der Demoskop Emmanuel Todd – aufflog, riss Präsident Emmanuel Macron das Steuer herum, erklärte dem Virus den „Krieg“ und ordnete den schärfsten Lockdown Europas an.

Das wirkte – zunächst auf die Konjunktur, die abgewürgt wurde. Bis das Infektionsgeschehen eingedämmt wurde, dauerte es länger. Denn die Bürokratie, „dieses französische Übel“, wie Ciotti es formulierte, führte dazu, dass Paris Angebote aus der Provinz überhörte wie etwa von Veterinärpraxen, die über Testkapazitäten verfügten, oder sogar von Elsässer Privatkliniken, die vergeblich 70 freie Beatmungsbetten anboten. Als sie aus einer Pariser Amtsstube endlich grünes Licht erhielten, hatte die Infektionswelle bereits die Städte Mülhausen und Straßburg erreicht.

Ab Mitte Mai lockerte Macron die strengen Maßnahmen dann stufenweise. Nun handelte er wochenlang sogar entschlossener als die Nachbarn Frankreichs. Das belegt eine Studie der Universität Oxford: Während Deutschland seine Einschränkungen von 65 auf 54 Prozent senkte, fuhr sie Macron von 88 auf 43 Prozent herunter (100 entspricht einem Totalverbot). Diese doppelte Überkorrektur hatte vor allem psychologische Folgen. Die Franzosen, ohnehin erschöpft von dem monatelangen Nichtstun, verstanden die Vorgaben aus dem Elysée-Palast nicht mehr. Misstrauen machte sich breit. In einer Umfrage erhielt Macron einen ähnlich tiefen Zustimmungswert – von 30 Prozent – wie US-Präsident Donald Trump; Angela Merkel lag dagegen bei den Franzosen mit 54 Prozent einsam in Führung. Ergreift Macron heute das Wort, stößt er auf eine Mauer der Skepsis. Als sein Premierminister Jean Castex letzte Woche predigte, das Maskentragen sei „äußerst nützlich“, erklang von überall: Warum hatte die Regierung dann noch im März davon abgeraten?

Wobei zu präzisieren ist: In Paris gibt es im Unterschied zu Deutschland kaum „Querdenker“-Kundgebungen.

Vielleicht, weil in Frankreich jeder ein Querdenker ist. Denn das Maskentragen ist für den „Citoyen“ keine kollektive Frage, sondern eine der individuellen Freiheit. Wenn er will, holt er sich morgens ein Baguette, ohne eine Maske anzuziehen. Und wer ihn an das Obligatorium erinnert, wird im besten Fall angefaucht. In einer Boulangerie wurde eine Krankenschwester zusammengeschlagen, in einer Wäscherei ein Familienvater mit Baseballschlägern malträtiert – nur weil sie an die Maskenpflicht erinnert hatten.

Macron spürt den Unwillen im Volk. Er gibt sich mittlerweile nicht mehr martialisch, sondern fast schon milde. Auch damit findet der Präsident aber nicht den richtigen Ton. Statt seinen Landsleuten Halt in schwierigen Zeiten zu geben, verschanzte er sich lieber in seiner Sommerresidenz, dem Fort de Brégançon an der Côte d’Azur. Dort empfing er Angela Merkel mit Kopfneigen auf Distanz. Anders all jene Franzosen, die sich diesen Sommer auf Ferien mit dem Familienclan beschränkten: Wie „Le Monde“ berichtet, begrüßte man sich im Landhaus der Großeltern partout mit dem obligaten Wangenküsschen, „la bise“. Jüngere tanzten eng auf Ravepartys in den Cevennen, Ältere bräunten am FKK-Strand in Cap d’Agde. Dort schnellen die Infektionszahlen nun gefährlich in die Höhe, landesweit wurde an diesem Wochenende sogar ein Rekord von beinahe 9000 Neuinfektionen an einem Tag erzielt.

Das ist der Preis für einen Sommer, in dem die Franzosen endlich wieder leben, frei atmen, sich näher kommen wollten. Man kann es ihnen nachfühlen nach den harten Restriktionen der Vormonate.

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