Ausschreitungen und Demonstrationen Niederlande im Teil-Lockdown – Ein Land im Verteidigungsmodus

Amsterdam · Drastische Corona-Zahlen, Frustration unter medizinischem Personal, Wut über die neuen Beschränkungen: Die Niederlande befinden sich mit ihrem dreiwöchigen Teil-Lockdown in einer heiklen Lage.

 Nach der Ankündigung des Teil-Lockdwns gab es in Den Haag am Freitag Proteste.

Nach der Ankündigung des Teil-Lockdwns gab es in Den Haag am Freitag Proteste.

Foto: dpa/Jeroen Jumelet

Das Wochenende mitten im November ist in den Niederlanden traditionell äußerst wichtig: Die feierliche Ankunft von „Sinterklaas” – der Legende nach mit dem Dampfschiff aus Spanien kommend und als „intocht” ein Ereignis nationaler Tragweite – markiert den Beginn einer Art fünfter Jahreszeit. In diesem Jahr ist es ein Gradmesser für den Zustand einer Gesellschaft, die sich unerwartet wieder im Verteidigungsmodus befindet.

Während in der Hauptstadt Amsterdam der „Sint” am Sonntag fröhlich begrüßt wurde, sagte man die Feier in Utrecht „wegen akuter Entwicklungen rund um das Coronavirus” ab. Das gleiche gilt für mehr als 20 Kommunen in der westlichen Metropolregion um Rotterdam. In Berghem, einem Dorf in der Provinz Brabant, fand der Einzug am Samstag spontan als „Drive- In” statt.

Am gleichen Tag traten in den Niederlanden die neuen Maßnahmen in Kraft, mit denen die Regierung dem Virus erneut den Kampf angesagt hat: Nicht für den alltäglichen Bedarf notwendige Geschäfte müssen um 18 Uhr schließen, Gastronomie und Supermärkte zwei Stunden später. Sportwettkämpfe, darunter der aktuelle Spieltag der Ehrendivision oder das entscheidende Match der niederländischen Fußballer um die WM- Qualifikation am Dienstag, finden ohne Publikum statt.

Zuhause arbeiten ist wieder die Norm, zugleich darf man in den eigenen vier Wänden nicht mehr als vier Gäste pro Tag empfangen. Wo kein Corona-QR-Code nötig ist, gilt die Anderthalb- Meter-Abstandsregel, ohne verpflichtenden QR-Code, also etwa in Supermärkten, sind Gesichtsmasken obligatorisch.

Die Regierung in Den Haag, die mehr als einmal seit Ausbruch der Corona-Pandemie zu zögerlich vorging, sieht sich mit diesem „Teil-Lockdown”, der vorerst bis zum 4. Dezember gilt, zum Handeln gezwungen. Zu dramatisch klangen in den letzten Wochen die Notrufe aus den Krankenhäusern. Deren Überlastung ist kein Horror-Szenario für einen fernen Höhepunkt der Infektionswelle im tiefsten Winter, sondern bereits jetzt eine Tatsache. Mehr als 40 Prozent mussten ihre regulären Kapazitäten bereits einschränken.

Die Infektionszahlen unterstreichen diese Entwicklung: am Donnerstag und Freitag gab es jeweils mehr als 16.000 positive Tests, mehr als 3000 über dem bisherigen Rekordwert vom letzten Dezember. Ein Blick auf andere europäische Länder zeigt, dass die Niederlande damit keineswegs alleine dastehen. Nicht zuletzt im Nachbarland Deutschland ist man schockiert von den jüngsten Rekordahlen. Gemessen an einer Gesamtbevölkerung von gut 17 Millionen sind die niederländischen Werte allerdings ungleich höher.

Wie das passieren konnte, trotz einer Impf-Quote, die laut Gesundheitsinstitut RIVM bei knapp 85 der Erwachsenen liegt? Bereits Ende Oktober analysierten Experten gegenüber dem öffentlich-rechtlichen TV-Sender NOS, die Zahl der Ungeimpften sei noch immer zu hoch. Zudem habe die Aufhebung der meisten Beschränkungen Ende September dafür gesorgt, dass das Coronavirus weiterhin zirkulieren könne. Der Amsterdamer Hausarzt Fokko de Vries erläutert: „Es kommt in erster Linie durch Ungeimpfte. Das ist sehr enttäuschend. Bei der ersten Welle konnten wir noch nicht so viel tun. Doch dass jetzt wieder eine Überlastung des Gesundheitssystems droht und der Stress für das Personal zunimmt, hätte verhindert werden können.”

Begünstigt werde die aktuelle Welle auch durch den Herbst und das hohe Ansteckungspotential der Delta- Variante, so De Vries zur „Rheinischen Post“. Zudem hätten die Leute inzwischen Prinzipien wie das Abstand- Halten aufgegeben. „Und die Regierung hätte wohl auch deutlicher kommunizieren können, dass eine Impfung vor einer Krankenhaus-Aufnahme schützt, aber nicht zu 100 Prozent vor einer Infektion.”

Während in der medizinischen Welt die Frustration über eine weitere zu verhindernde Infektionswelle zunimmt, entlud sich am Wochenende auch Wut über die erneuten Beschränkungen. Im friesischen Leeuwarden protestierten am Samstagabend Hunderte Menschen gegen das Schließen der Cafés. Dabei wurde schweres Feuerwerk entzündet, es gab Auseinandersetzungen mit der Polizei und 15 Festnahmen.

In Zwolle demonstrierten Gastronomen gegen die neuerlichen Regeln, in Breda nahe der belgischen Grenze beteiligten sich etwa 80 Prozent der Gastronomie im Zentrum an einem Protest und ignorierten am Samstag die neue Sperrstunde. Im Hintergrund solcher Kundgebungen steht die allgemeine Krise etablierter Politik in den Niederlanden sowie der Regierung Rutte im Besonderen, die seit ihrem Rücktritt zu Jahresbeginn nur noch kommissarisch im Amt ist.

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