Urbanisierungsprojekt betrifft 300 Millionen Menschen Chinas neue Völkerwanderung in die Städte

Peking · Die Führung in Peking will die Urbanisierung des Riesenreichs massiv vorantreiben. 300 Millionen Menschen sind direkt betroffen.

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Auf seine ehrgeizigen Urbanisierungspläne kam Chinas Premier Li Keqiang erst zu sprechen, als er mit dem Großteil seines 35-seitigen Rechenschaftsberichts schon durch war. Fast schien es, als wolle er das gigantische Projekt vor dem Volkskongress kleinreden zu wollen. Dabei plant die Führung in Peking nichts Geringeres als eine Revolution.

Bei der Amtsübergabe im März 2013 an Li hatte dessen Vorgänger Premier Wen Jiabao noch voller Stolz berichtet, wie es in seiner Regierungszeit erstmals dazu kam, dass mehr Chinesen in Städten als auf dem Land leben. Unter Li soll China nun noch schneller verstädtern: Schon im Jahr 2020 werden 850 Millionen Chinesen und nochmals zehn Jahre später sogar rund eine Milliarde Menschen in urbanen Zentren wohnen.

Nur 400 bis 500 Millionen Bauern, so die Vision der staatlichen Planer, bleiben auf dem Land zurück. In einer plakativen Kurzformel umschrieb Premier Li die erste Phase seines Aktionsprogramms Urbanisierung bis zum Jahr 2020 als "dreifaches 100 Millionen-Projekt". Es geht dabei nicht um Geld, sondern um Menschen. Li will in einem ersten Schritt die Hälfte der heute in Chinas Städten ansässigen Wanderarbeiter im sogenannten Hukou-Melderegister eintragen lassen und diese 100 Millionen Personen dadurch zu regulären Stadtbewohnern machen. Bislang sind die Wanderarbeiter in den Städten nur geduldete Bürger zweiter Klasse.

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Diskriminierendes Registrierungssytem

730 Millionen Chinesen leben schon heute in Städten. Rechnerisch machen sie 53,7 Prozent des 1,37-Milliarden-Volkes aus. In Wirklichkeit sind es nur 35,7 Prozent. Denn weniger als 500 Millionen unter den 730 Millionen Menschen sind in den Melderegistern der Städte mit "Hukou"-Stadtbürger-Status eingetragen. Nur so haben sie Anrechte auf 60 unterschiedliche, verbriefte und geldwerte Leistungen der Stadt für ihre Bürger. Die Bauern gehen leer aus. Das Hukou-System ist ein Relikt der alten Planwirtschaft, um Landflucht der Bauern in die Städte zu verhindern. Die Volksrepublik behielt das diskriminierende Registrierungssystem bis heute bei.

Die Diskriminierung muss fallen, wenn China bis 2020 den Anteil seiner Bevölkerung in den Städten auf 60 Prozent und den "echten" Anteil der Urbanisierung auf 45 Prozent erhöhen will. Seit 1978 vermehrte sich die Zahl chinesischer Millionenstädte von 29 auf 142. Chinas Staatsrat will nun aber das Recht von Städten mit mehr als fünf Millionen Einwohner begrenzen, ihre Urbanisierungsraten noch weiter zu erhöhen. Statt dessen sollen vor allem mittelgroße Städte ermuntert werden, mehr neue Bürger aufzunehmen.

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Foto: Shutterstock.com/ Farida Doctor-Widera

Lis zweiter Vorstoß zielt daher auf 100 Millionen Bauern, die in slumähnlichen Behausungen am Rande mittelgroßer Städte leben. Sie sollen in Sozialwohnungen umgesiedelt werden. Und weitere 100 Millionen Bauern sollen ermuntert werden, aus ihren Dörfern in unterentwickelten Regionen Westchinas in Mittelstädte abzuwandern. Ein Teil der Milliardenkosten für dieses gewaltige Urbanisierungsprogramm soll durch neue lokale Steuern auf Immobilien oder über zentralstaatlich aufgelegte Schuldverschreibungen für betroffene Lokalregierungen finanziert werden.

Drei Jahre am Rahmenplan getüftelt

Ein in 31 Kapiteln unterteilter "Staatsplan für eine neuartiger Urbanisierung 2014 bis 2020" beschreibt detailliert, wie die neue Völkerwanderung in ein verstädtertes China im Einzelnen ablaufen soll. Drei Jahre hatten 13 Ministerien unter Federführung der Entwicklungs- und Reformkommission den Rahmenplan ausgetüftelt, sagte Vizeminister Xu Xianping. Die Urbanisierung ist demnach Mittel zum Zweck, um Chinas Wachstum neue Anstöße zu geben. Das alte Wirtschaftsmodell, schreibt offen selbst Chinas Staatsrat, "hat keinen Dampf mehr". Die Umwandlung zur neuen binnenmarktorientierten Wirtschaftsweise ist noch im Gange.

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Bei der Urbanisierung liege daher das "größte Potenzial, um die Binnennachfrage anzukurbeln". Allein die bis 2030 benötigten Bau- und Infrastruktur-Investitionen für die Aufnahme von mehr als 250 Millionen neuen Stadtbürgern würden sich auf einen Investitionsbedarf von umgerechnet 3,9 Billionen Euro summieren. Hinzu kämen Investitionen in Telekom- und Dienstleistungen oder in Ausbildungsprojekte. Urbanisierung sei das Herzstück der vier neuen Modernisierungsreformen in Industrie, Landwirtschaft und IT-Technologie, schreibt der Staatsrat. "Ein starker Motor für nachhaltiges und gesundes Wirtschaftswachstum."

Doch es gab auch Warnungen. Weltbank-Geschäftsführerin Sri Mulyani Indrawati betonte, es gehe nicht nur um "Ziegel und Mörtel", sondern um Menschen. "Mit Stückwerkreformen" sei es für China nicht mehr getan. Premier Li hatte bei der Weltbank in Kooperation mit den Wirtschaftsforschern seines Staatsrats ein Sondergutachten zu Chinas Urbanisierungsstrategie bestellt. Der 544 Seiten starke Report "Urban China" gibt kritische Empfehlungen zu neuen Finanzierungs- und Steuermodellen für lokale Regierungen, zum Schutz von Agrarland, Ressourcen und Umwelt, zu Lösungen für die Verkehrsprobleme, zur Stadtplanung und vor allem zur Integration, Gleichstellung und Ausbildung der neu zugewanderten Stadtbürger.

Zunehmende Sozialkonflikte

Nur nachhaltige Urbanisierung könne zum Wachstum beitragen, unterstrichen die Autoren des Reports. Sie sei dann auch finanzierbar. Nach Berechnungen der Weltbank könnte Peking durch effizientere Planungen einen Betrag im Gegenwert von 15 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung einsparen. Die Studie steckt aber auch voller unbequemer Erkenntnisse. Beschrieben wird etwa, wie Chinas Wirtschaftswunder auf dem Rücken der Bauern aufblühen konnte. Nicht nur, weil diese als unterbezahltes Arbeitsheer an den Werkbänken der Welt standen, sondern auch durch ihre skandalöse Enteignung.

Lokale Behörden hätten den Bauern für beschlagnahmtes Land zwischen 1990 und 2010 insgesamt zwei Billionen Yuan (220 Milliarden Euro) weniger gezahlt, als ortsüblicher Marktwert war. Die Weltbank schätzt, dass die bäuerlichen Haushalte heute ohne solchen Betrug um umgerechnet 600 Milliarden Euro reicher wären. Der Bericht thematisiert auch Chinas zunehmende Sozialkonflikte, Land- und Arbeitsproteste. Zehn Prozent der reichsten Haushalte Chinas besitzen heute 85 Prozent aller Anlagevermögen und 57 Prozent des Einkommens im Land. Chinas Regierung will regionalen Behörden künftig verbieten, Land und Boden verpachten oder verkaufen zu können, um Urbanisierungskosten zu finanzieren.

Negativbeispiel Massenmotorisierung

Der Weltbankreport mahnt dazu, die Verkehrssysteme in den Städten effizienter zu organisieren und anzubinden. Negatives Beispiel ist die von privater Nachfrage angetriebene Massenmotorisierung, die in den vergangenen 20 Jahren um jährlich 14 Prozent wuchs. 1990 fuhren in China 5,5 Millionen Fahrzeuge. 800.000 davon waren Privatfahrzeuge. 2012 waren es 121 Millionen Autos, darunter 93 Millionen Privatwagen. Ende Februar 2014 meldeten Chinas Verkehrsbehörden schon 141 Millionen Autos.

Trotz gigantischer Investitionen etwa in den U-Bahn-Ausbau hält der Nahverkehr nicht Schritt. Dabei hätte China mit seinen auf mehr als 10.000 Kilometer ausgebauten Hochgeschwindigkeitsstrecken gute Voraussetzungen für nachhaltige Urbanisierung, sagt Weltbank-Direktor Klaus Rohland. Im Umkreis bis zu 300 Kilometer könnten Pendler rund um die Metropolen wohnen. Aber bisher nur theoretisch. Denn es fehlt an Vernetzung und Anbindung.

(RP)
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