Nach Kabinettssitzung London verstärkt Vorbereitungen für harten Brexit

London · Knapp 100 Tage vor dem Brexit-Datum am 29. März aktiviert die britische Regierung „sämtliche Pläne“ für einen EU-Austritt ohne Abkommen. Kritiker werfen der Premierministerin vor, sie wolle damit den Druck erhöhen, um ihr Abkommen durchs Parlament zu peitschen.

 Bereitet sich auf Szenario „harter Brexit“ vor: Premierministerin Theresa May.

Bereitet sich auf Szenario „harter Brexit“ vor: Premierministerin Theresa May.

Foto: AFP/JESSICA TAYLOR

Die britische Regierung verstärkt ihre Vorbereitungen für den Fall eines EU-Austritts ohne Abkommen. Das teilte der Regierungssitz Downing Street nach einer Kabinettssitzung am Dienstag mit. Sämtliche Pläne für einen Brexit ohne Deal mit der Europäischen Union seien nun aktiviert worden, sagte ein Sprecher am Dienstag. Die Minister hätten dafür zwei Milliarden Pfund (rund 2,2 Milliarden Euro) an Mitteln freigegeben.

Allgemeine Priorität sei weiterhin, einen Brexit-Vertrag unter Dach und Fach zu bringen, sagte Brexit-Minister Steve Barclay nach der Kabinettssitzung in einem BBC-Interview. Gleichzeitig müsse eine verantwortungsvolle Regierung aber sicherstellen, für einen ungeregelten Brexit bereit zu sein. „Deswegen hat das Kabinett heute beschlossen, dass No-Deal-Vorbereitungen auf operativer Ebene in der Regierung Priorität haben werden“, so der Brexit-Minister.

Britische Medien werteten den Schritt als Warnung an die Abgeordneten im Unterhaus und an die EU, dass es London ernst meint und bereit ist, notfalls ohne Abkommen aus der Staatengemeinschaft auszutreten. Knapp 100 Tage vor dem EU-Austritt des Landes am 29. März ist noch immer nicht in Sicht, wie Premierministerin Theresa May die mit Brüssel ausgehandelte Vereinbarung durchs Parlament bringen will. Das Abkommen soll die Bedingungen des Austritts festlegen.

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Foto: Caro / Oberhaeuser

Die britische Regierung rief auch Unternehmen auf, Vorkehrungen zu treffen. Zehntausende Briefe mit Hinweisen sollten demnächst an Firmen verschickt werden. Verteidigungsminister Gavin Williamson sagte vor Abgeordneten im Parlament, 3500 Soldaten würden für alle Fälle bereitstehen, um bei Engpässen die Behörden zu unterstützen.

Der Chef der oppositionellen Liberaldemokraten, Vince Cable, kritisierte die Maßnahmen als „psychologische Kriegsführung“. Die Regierung versuche, Abgeordnete, Unternehmen und die Öffentlichkeit mit der Drohung eines Brexits ohne Abkommen zu ängstigen. „Theresa May spielt verantwortungslos auf Zeit, damit als einzige Option übrig bleibt, ihren diskreditierten Deal zu unterstützen“, so Cable.

Bei einem Auftritt am Montag im Unterhaus hatte May angekündigt, dass die verschobene Abstimmung über ihren Brexit-Deal in der dritten Januarwoche (vom 14. Januar an) stattfinden soll. Das stieß teilweise auf heftige Kritik bei den Abgeordneten. May hofft weiterhin auf Zugeständnisse aus Brüssel, von dort hieß es jedoch am Montag, derzeit seien keine weiteren Gespräche über den Brexit geplant.

Sollte Großbritannien am 29. März 2019 ohne ein Abkommen aus der EU ausscheiden, hätte das unmittelbare Folgen für Menschen und Unternehmen auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Die rechtlichen Grundlagen für Handel, Verkehr und das Arbeiten und Leben auf der jeweils anderen Seite würden über Nacht wegfallen. Trotz Notfallmaßnahmen wäre mit erheblichen Verwerfungen zu rechnen.

Auf viele Waren würden Zölle anfallen. An Häfen wie Dover müssten deshalb Kontrollen stattfinden. Die Infrastruktur ist dafür aber nicht ausgelegt. Die Folge wäre Experten zufolge ein kilometerlanger Rückstau von Lastwagen im Südosten Englands. Auch an der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland müssten Kontrollen eingeführt werden, das wäre vor allem politisch heikel. Selbst ein Wiederaufflammen des Konflikts in der Ex-Bürgerkriegsregion gilt für diesen Fall als möglich.

Es könnte dann zu teilweise leeren Lebensmittelregalen und Medikamentenknappheiten in Großbritannien kommen. Auch die Preise für importierte Waren dürften nach oben schnellen, weil mit einer weiteren Abwertung des Britischen Pfunds gerechnet wird. Finanzdienstleistungen wie beispielsweise die Auszahlung von Renten und bargeldloses Bezahlen könnten teilweise erschwert werden. In Großbritannien lebende EU-Bürger und in der EU lebende Briten würden in Ungewissheit über ihre Rechte gestürzt. Beispielsweise wäre unklar, ob sie weiterhin Zugang zum Gesundheitssystem des Gastlandes hätten.

Auch Brüssel hat angekündigt, seine Vorbereitungen für den Fall eines Brexits ohne Abkommen zu verstärken. Die EU-Kommission will am Mittwoch konkrete Maßnahmen vorlegen.

(mja/dpa)
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