Wikileaks-Informant Dienstag wieder vor Gericht Bradley Manning: Held oder Kriegsverbrecher?

In der Affäre um die Veröffentlichung von US-Geheimdokumenten im Internet erscheint der mutmaßliche Wikileaks-Informant Bradley Manning am Dienstag wieder vor Gericht. Bei den Anhörungen prüft das Militärgericht Anträge von Anklage und Verteidigung. Eine große Frage bleibt: Ist Manning ein Held oder Kriegsverbrecher?

 Bradley Manning droht lebenslange Haft.

Bradley Manning droht lebenslange Haft.

Foto: afp, MARK WILSON

Die Liste der Vorwürfe gegen Manning ist lang und voller Bestimmungen und Gesetze der US Army sowie der Vereinigten Staaten. Es sind die Punkte, gegen die Private First Class Bradley Manning verstoßen haben soll zwischen dem 1. November 2009 und dem 27. Mai 2010. Tatsächlich aber geht es im Grunde nur um einen Vorwurf: Er soll Dateien und Videos aus dem Netzwerk des Verteidigungs- und Außenministeriums, dem SIPRNet, kopiert und weitergegeben haben — an die Enthüllungsplattform Wikileaks und deren Gründer Julian Assange.

Darunter sollen auch die 250.000 Botschaftsdepeschen sein, deren schrittweise Veröffentlichung vor rund einem Jahr für weltweites Aufsehen sorgte. Und auch das Video eines Hubschrauberangriffs am 12. Juli 2007 auf Zivilisten und Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters. Es ist das Video, das Wikileaks unter dem Titel "Collateral Murder" am 5. April 2010 veröffentlicht hatte und der Enthüllungsplattform erst die von Assange ersehnte Öffentlichkeit brachte.

Held oder Landesverräter

Für die einen ist Bradley Manning darum ein Held, ein Kämpfer für Gerechtigkeit, der die Brutalität des US-Krieges gegen Terroristen nicht mehr unter den Tisch kehren wollte. Für die anderen ist er ein Landesverräter, der das Vertrauen der USA und seiner Kameraden missbraucht und enttäuscht hat. Jemand, der mit seinem Verrat sogar dem Feind in die Hände gespielt hat. Etwas, worauf nach der Militärgerichtsbarkeit die Todesstrafe steht, von der man aber absehen möchte.

Doch ist das Manning wirklich? Seine Biografie — sie ist eine Aneinanderreihung von Enttäuschungen, ein Tagebuch eines innerlich zerrissenen Menschen, der auf der Suche nach Liebe und Anerkennung am Ende Wikileaks die Daten zur Verfügung stellt.

Die Suche nach den Ursachen dafür führt zunächst zu seinem Vater Brian, der sich mit 19 Jahren nach einem von vielen Party-Wochenenden im Alkoholrausch auf einmal in der US-Navy wiederfindet, wo er aufgrund seiner Computerbegabung und seiner Intelligenz als Daten-Analyst arbeitet und im britischen Wales stationiert wird. Dort heiratet er Susan Fox — das erstbeste Mädchen, das er trifft, und die unter einer Schreib-Lese-Schwäche leidet.

Nach fünf Jahren bei der Navy scheidet Manning Senior aus dem Dienst aus und zieht mit Frau und Tochter Anfang der 80er Jahre nach Oklahoma, wo am 17. Dezember 1987 Bradley geboren wird. Während sein Vater Brian Karriere als IT-Spezialist bei einem Autovermieter macht und deshalb sehr viel reisen muss, ist seine Frau mit dem Leben in einem für sie fremden Land und mit der Erziehung der Kinder völlig überfordert.

Schon früh ein Einzelgänger

Anfangs scheint noch vieles gut zu laufen. Bradley ist ein sehr guter Schüler, mathematisch und naturwissenschaftlich überaus begabt. Doch sein Vater wird aufgrund der Reisen immer mehr zu einem Fremden für ihn. "Einmal, als ich nach sechs Wochen nach Hause kam, Bradley war damals 3 oder 4, erkannte er mich noch nicht einmal mehr", erzählt sein Vater gegenüber einem Reporter des New York Magazins. Doch der Graben zwischen den beiden geht noch sehr viel tiefer.

Brian ist ein "Party Animal", der die Gesellschaft sucht und genießt. Sein Sohn dagegen ist ein Einzelgänger, der nach der Schule fast sofort auf sein Zimmer geht, um Hausaufgaben zu machen oder am Computer zu spielen und zu arbeiten. Bradley hat seine naturwissenschaftliche Begabung vom Vater gelernt. Doch dieser schafft es nicht, eine echte Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen — und zerstört aufgrund der vielen Geschäftsreisen auch die Beziehung zu seiner Frau.

In ihrer Einsamkeit vergöttert die Mutter den Jungen, macht ihn zu ihrem Lebensmittelpunkt, während sie mit dem Leben selbst in den USA nicht zurechtkommt und ihren Frust immer öfter im Alkohol ertränkt. Im Jahr 2000 lassen sich die Eltern scheiden. Die Mutter zieht mit dem Jungen nach Wales und will in ihrer alten Heimat neu anfangen. Dort knüpft Bradley zwar an seine guten schulischen Leistungen an, aber als "Yank", als US-Amerikaner, wird er noch mehr zum Außenseiter als in den USA. Der intelligente, aber kleingewachsene Bradley ist ein leichtes Opfer für die Erniedrigungen seine Mitschüler, während seine Mutter immer mehr dem Alkohol verfällt.

Mit 17 ruft er verzweifelt seinen Vater in den USA an, zu dem er kaum noch Kontakt hat. 2005 zieht Bradley bei ihm und seiner zweiten Ehefrau ein. Aufgrund seiner Computerbegabung findet er sogar schnell einen Job bei "zoto.com", einem Flickr-Konkurrenten. Nach vier Monaten aber verliert er ihn wieder. Es gibt Streit um seine Arbeitsauffassung. Der oft alleingelassene Außenseiter kann sich nicht anpassen. Auch hat ihm niemand beigebracht, Konflikte zu lösen, statt sie eskalieren zu lassen. Vor allem aber kennt Bradley seit seiner Geburt kaum eine andere Autorität außer sich selbst. Sich nun einem Chef unterzuordnen, fällt ihm schwer.

Nach dem Verlust seines Jobs verliert er jeden Antrieb und wird depressiv. Er lebt bei der neuen Familie seines Vaters, dessen Ehefrau aber mit der Zeit das Gefühl hat, dass er die Familie ausnutzen und ihnen auf der Tasche liegen würde. Dass er sich mittlerweile offen zu seiner Homosexualität bekennt und Freunde mit nach Hause bringt, entschärft die Situation erst recht nicht. Vielmehr eskaliert im März 2006 der Streit mit seiner Stiefmutter. Er bedroht sie mit einem Küchenmesser. Sein Vater versucht noch einzugreifen und die verfahrene Situation irgendwie zu entspannen, aber er rutscht aus und fällt. Am Ende ist nur der Notruf der Stiefmutter bei der Polizei dokumentiert. Im Hintergrund hört man leise Bradley seinen Vater fragen, ob er okay sei. Die Polizei eskortiert ihn aus dem Haus.

Letzter Ausweg: Die Armee

Der damals 18-Jährige steht buchstäblich auf der Straße. Ziel- und orientierungslos übernimmt er Gelegenheitsjobs und landet schließlich bei seiner Tante in Washington. Sein Vater hält trotz der Ereignisse Kontakt zu seinem Sohn, um den er sich sorgt und für den er bereits eine Lösung hat: Er soll sich bei der Armee verpflichten. Das hätte ihm in Bradleys Alter damals auch geholfen, sein Leben in den Griff zu kriegen. Bradley hadert lange mit dem Gedanken. Genauso lange versucht sein Vater ihn zu überzeugen. Im Oktober 2007 tritt Bradley dann schlussendlich der Armee bei — mit einem Plan, wie er in einem Chat schreibt. Die Armee soll für das College bezahlen, dafür würde er seine Pflicht tun. Und er ist überzeugt von der Mission, von dem Kampf gegen die Terroristen in Afghanistan und im Irak und davon, mit seiner Arbeit das Leben von Soldaten zu retten.

Die Armee aber entpuppt sich für ihn mit der Zeit als die Hölle. Die Disziplin und die Striktheit irritieren ihn, sich an die Befehlskette und Hierarchien zu gewöhnen, fällt ihm schwer. Etwas, dass man aus seinem Lebenslauf hätte schließen können. Mit nur 1,57 Metern und knapp 48 Kilogramm erinnert er zudem eher an ein Kind als an einen Soldaten. Doch die Army will nicht nur einen Kämpfer, sie will auch einen Nerd. Jemanden, der mit Computern umgehen, Daten analysieren und aufbereiten kann. Jemand, der einen Krieg aus dem Hinterzimmer über eine Datenverbindung führt. Darum sieht man über alle Probleme Mannings hinweg. Der aber nutzt jede freie Minute, um dem hierarchischen System zu entfliehen.

In Boston lernt er eine Gruppe Computerfreaks meist vom MIT in Boston kennen, die dem alten Hacker-Manifest folgen: in Systeme eindringen, ohne Schaden zu verursachen — um Schwachstellen aufzudecken und auch um die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Es ist eine Gruppe, in der er sich mehr Zuhause fühlte, als in der Kaserne. Da ist er im US-Verteidigungsnetzwerk, auf das er ohnehin Zugriff hat, schon längst über die erlaubten digitalen Grenzen getreten, um zu sehen, was es dort sonst noch gibt.

Homosexualität

In Boston trifft er auch einen Mann, den er für die Liebe seines Lebens hielt, den Neurobiologen Tyler Watkins. Eine Beziehung, von der er fast schon besessen ist. Frisch verliebt kann er seine Homosexualität indes kaum noch vor seinen Kameraden verbergen, die ihn hänseln und ihre Wut an ihm auslassen. Zumal sie ihn, den kleinwüchsigen Kriegsspieler am Computer, nicht für einen echten Soldaten halten. Unter dem Druck und den Demütigungen verliert er langsam die Kontrolle, er hat immer wieder Ärger mit seinen Peinigern. Er legt sich auch mit Vorgesetzten an und muss im August 2009 zu einer psychiatrischen Untersuchung. Sein Master Sergeant empfiehlt sogar, ihn nicht in den Irak zu schicken, weil er dafür mental nicht geeignet sei.

Die Empfehlung wird zur Kenntnis genommen und abgeheftet, Manning aber im Oktober 2009 in der vorgelagerten Operationsbasis "Hammer" stationiert — etwa 60 Kilometer von Bagdad entfernt. Eingepfercht in einem kleinen überfüllten Raum, in dem er 14 bis 15 Stunden am Tag arbeiteten muss. Die Mission, an die der Atheist einst geglaubt hatte, verkommt zur ewig gleichen Routine: Der Feind ist reduziert zu verwaschen wirkenden Schemen in einer Aufnahme eines Hubschraubers oder einer Helmkamera. Manning soll die Bilder analysieren, Gefahrenquellen und Gegner identifizieren. Tagein und tagaus. Viel zu wenig für seine Intelligenz, viel zu desillusionierend für den Mann, der mit idealistischen Zielen in die Armee eingetreten war.

Er sieht, wie die Irakische Polizei Unschuldige verhaftet. Auf seinen Einwand aber reagiert niemand bei der US-Armee. Als er eines Tages in einer Ansammlung von Menschen in Basra eine mögliche Bedrohung erkennt, schreiten US-Soldaten ein. Es gibt einen Toten. Manning fühlt sich schuldig. Im November 2009 kontaktiert er einen Vertrauensmann — eigentlich, weil er sein Geschlecht operativ wechseln will und sich immer mehr als Frau denn als Mann sieht. Er fühle sich "wie ein Monster", weil er sich im falschen Körper wähnt. "Wie ein Monster", weil seit dem Vorfall in Basra Blut an seinen Händen klebt. In dieser Zeit baut er desillusioniert auch den Kontakt zu Julian Assange und Wikileaks auf.

"Zeichen einer dissoziativen Störung"

Eine neue Mission, an die er ganz im Sinn der alten Hacker-Ideale glauben kann und bei der er sich als Held fühlt. Assange weiß genau, wie er ihn ködern kann. Er zollt ihm Anerkennung und Respekt — allerdings immer mit Blick auf die hoch geheimen Daten, die Manning ihm beschaffen kann. Sie sind der Preis für die Anerkennung Assanges. Und der Soldat bezahlt ihn. Seine Vorgesetzten dagegen stellen bald fest, dass er "Zeichen einer dissoziativen Störung zeigt": körperlich anwesend, aber geistig abwesend. Seine Vorgesetzten lassen bereis im Dezember sicherheitshalber den Schlagbolzen aus seiner Waffe entfernen, weil sie Angst haben, dass er sich selbst oder andere verletzen könnte.

Abgezogen von seinem Posten wird er indes nicht. Dafür ist der Bedarf an "Nerds" bei der US-Armee zu groß. Auch wenn sie psychisch labil sind. Die Kontrolle entgleitet Manning immer mehr. Erst recht, als seine Beziehung zu der Liebe seines Lebens in der Schwebe scheint. Schon bevor er im Irak stationiert wurde, hat Watkins seinen Facebook-Status in "Single" geändert, sich aber noch nicht definitiv von ihm getrennt. Monatelang weiß Manning nicht, woran er ist, bis Watkins ihm im April mitteilt, dass es Aus sei. Der 23-Jährige ist verzweifelt, schreibt das auch auf seinem Facebook-Profil und fühlt sich alleingelassen — in einem Körper, den er nicht mehr als den eigenen ansieht, und in einer Routine, die im Tod Unschuldiger mündet und der nichts Heroisches anhaftet.

Die Lage eskaliert

Die Situation im Irak eskaliert. Er schlägt am 7. Mai einen weiblichen Offizier ins Gesicht, wird vom Specialist zum Private First Class degradiert. Erst jetzt möchte die Armee ihn aus dem Dienst entlassen. Je verzweifelter Manning ist, desto mehr sucht er im Netz nach Verständnis — und findet am 21. Mai 2010 die Hacker-Legende und bisexuellen Schwulen-Aktivisten Adrian Lamo, der aber längst mit den Behörden zusammenarbeitet, um als überführter Hacker dem Gefängnis zu entgehen.

Manning erzählt ihm übers Internet, wie lasch die IT-Sicherheit bei der Armee gehandhabt werde und dass er alle Daten aus dem Verteidigungs-Netzwerk, die er gesammelt hatte, auf eine CD gebrannt hat. Manning redet davon in der Hoffnung auf Liebe und Anerkennung von Lamo, der ihn aber anzeigt. Der Soldat wird am 26. Mai 2010 imm Irak verhaftet. Nun steht er vor dem Kriegsgericht. Ihm drohen bis zu 52 Jahre Haft. Je nach Sichtweise als Held oder Verräter. Tatsächlich aber als innerlich zerrissener Mensch, der gescheitert ist.

(csi/das)
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