Nach Rücktritt mehrerer Regierungsmitglieder Premier Johnson will trotz scharfer Kritik weitermachen

London · Am Mittwochabend hat das kabinett Johnson zwei weitere Schwergewichte verloren - das politische Schicksal des Premierministers steht auf Messers Schneide. Das Grummeln unter seinen Parteifreunden ist nicht zu überhören.

Das ist Boris Johnson: Premierminister von Großbritannien - Fotos
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Das ist Boris Johnson

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Foto: AP/Manu Fernandez

Der britische Premierminister Boris Johnson will trotz der immer lauter werdenden Rücktrittsforderungen aus seinem Kabinett und seiner Partei nichts von einem Rücktritt wissen. Sollte er gehen, werde es „Chaos“ geben, zitierte ihn die Nachrichtenagentur PA unter Berufung auf einen Vertrauten des Regierungschefs. In der Downing Street 10 ging die Serie von Rücktritten unterdessen weiter: Mit dem Staatssekretär für Wales, Simon Hart, nahm am Mittwoch das dritte Kabinettsmitglied seit Wochenbeginn seinen Hut. Man habe den Punkt überschritten, an dem es noch möglich gewesen wäre, „das Ruder herumzureißen“, erklärte Hart.

Johnson hatte erst im Juni ein parteiinternes Misstrauensvotum knapp überstanden. Nun steckt er aber bereits im nächsten Schlamassel. Diesmal geht es um wiederholte sexuelle Übergriffe eines von Johnson geförderten Funktionärs der Regierungsfraktion. Chris Pincher ist inzwischen als Vize-Fraktionschef der Konservativen zurückgetreten. Johnson leugnete zunächst, von den Vorwürfen gewusst zu haben, räumte dann allgemeine Kenntnisse ein, um schließlich erklären zu lassen, er sei persönlich informiert worden, habe das aber wieder vergessen. Er entschuldige sich für die Berufung Pinchers, im Rückblick sei es die falsche Entscheidung gewesen, erklärte Johnson.

Aus Protest gegen den Schlingerkurs des Premiers trat Rishi Sunak am Dienstagabend als Finanzminister zurück, Gesundheitsminister Sajid Javid tat es ihm gleich, rund 40 Staatssekretären und Mitarbeiter legten ihre Ämter danach ebenfalls nieder. Johnson ernannte Nadhim Zahawi zum neuen Finanz- und Steve Barclay zum Gesundheitsminister und schloss einen eigenen Rücktritt kategorisch aus.

Einige seiner engsten Vertrauten wollen ihn jedoch nicht mehr in der Downing Street sehen. Wie die PA meldete, suchte ihn am Mittwochabend eine Delegation von Kabinettsmitgliedern in dem Amtssitz auf, um ihm einen „würdevollen Abgang“ nahezulegen. Johnson habe seine Weigerung mit den „enorm wichtigen Problemen“ begründet, „mit denen das Land konfrontiert“ sei. Er habe sich entschlossen, für seine politische Zukunft zu kämpfen.

Bei seinem Auftritt in der traditionellen Fragestunde des Parlaments scholl Johnson zuvor von der Labour-Opposition ein vielstimmiges „Geh, geh!“ entgegen. Schlimmer für den Premier war jedoch, dass ihn ein Parteifreund, der Tory-Abgeordnete Tim Loughton, mit der Frage anging, ob es überhaupt etwas gebe, das ihn zum Rücktritt veranlassen könne. Johnson antwortete: „Der Job des Premierministers besteht darin, in schwierigen Zeiten weiterzumachen, wenn er ein ungeheures Mandat erhalten hat.“ Die meisten Tories hörten still zu und zeigten kaum Unterstützung für Johnson.

Kritiker warfen ihm vor, sich wie ein Präsident zu gebärden, als er von seinem „Mandat“ sprach. In Großbritannien stimmen die Wähler für eine Partei, die dann den Regierungschef stellt, der Premier wird nicht direkt gewählt.

Johnson hat das Königreich aus der EU geführt und durch die Pandemie gelenkt. Der 58-Jährige konnte sich bisher immer wieder aus schier ausweglosen Skandalen herausgewunden. Vorwürfe einer zu großen Nähe zu Parteispendern blieben ebenso wenig an ihm haften wie Beschwerden, dass er mit Korruptions- und Mobbingvorwürfen konfrontierte Anhänger geschützt habe. In der Affäre um trotz strikter Corona-Lockdowns gefeierter Partys in seinem Amtssitz kam es zwar zu dem internen Misstrauensvotum, doch reichte es für ihn noch zum Weitermachen. 41 Prozent der konservativen Abgeordneten hatten aber dafür votiert, ihn abzusetzen.

Inzwischen fürchten viele Tory-Abgeordnete, dass ihr Chef nicht länger über die moralische Autorität in einer Zeit verfüge, in der angesichts massiv steigender Lebensmittel- und Energiepreise und des anhaltenden Ukraine-Kriegs schwierige Entscheidungen gefällt werden müssten. Nicht wenige Konservative sehen den einstigen Wahlsieger zudem als politische Belastung für Kandidaten der Partei.

Der frühere Entwicklungsminister Andrew Mitchell verglich Johnsons Überlebenskünste mit denen des russischen Mönchs Rasputin, der zahlreiche Anschläge überlebt hat. „Dies ist ein außergewöhnlicher Premierminister, eine brillante, charismatische, sehr lustige, sehr amüsante, große, große Persönlichkeit. Aber ich fürchte, er hat weder den Charakter noch das Temperament, um unser Premierminister zu sein“, sagte Mitchell in der BBC.

 Boris Johnson, Premierminister von Großbritannien mit anderen Ministern.

Boris Johnson, Premierminister von Großbritannien mit anderen Ministern.

Foto: dpa/Justin Tallis

Johnsons Gegner streben ein neues Misstrauensvotum an. Dafür müssten allerdings die Regeln der Konservativen Unterhausfraktion geändert werden. Eine Abstimmung im dafür zuständigen Parteiausschuss könnte ein Indiz dafür geben, wie die Chancen stehen.

(felt/chal/ahar/dpa/ap)
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