Berg-Karabach Früherer Chef der Separatistenregierung festgenommen – Gelder für fliehende Armenier

Update | Freiburg/Eriwan/Brüssel/Stepanakert/Baku/Berlin · Der Flüchtlingsstrom aus der Konfliktregion Berg-Karabach im Kaukasus reißt nach der Eroberung durch Aserbaidschan nicht ab. Caritas International stellt mehrere Hunderttausend Euro bereit. Der frühere Chef der Separatistenregierung wurde festgenommen.

 In diesem Bild aus einem Video das auf Siranush Sargsyans X-Account (ehemals Twitter) verbreitet wurde, zeigt aufsteigenden Rauch nach der Explosion eines Tanklagers in der Nähe von Stepanakert, Berg-Karabach.

In diesem Bild aus einem Video das auf Siranush Sargsyans X-Account (ehemals Twitter) verbreitet wurde, zeigt aufsteigenden Rauch nach der Explosion eines Tanklagers in der Nähe von Stepanakert, Berg-Karabach.

Foto: dpa/---

Das autoritär geführte Aserbaidschan hat nach dem Sieg über Berg-Karabach den früheren Verteidigungsminister der international nicht anerkannten Republik im Südkaukasus festgenommen. Lewon Mnazkanjan sei gefasst geworden, als er Berg-Karabach in Richtung Armenien habe verlassen wollen, teilte der Grenzschutz der ehemaligen Sowjetrepublik am Freitag mit.

Mnazkanjan, der von 2015 bis 2018 Verteidigungsminister von Berg-Karabach (Arzach) war, sei nun in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku gebracht worden. Zuvor war bereits der frühere Regierungschef der Region, Ruben Wardanjan, festgenommen worden.

 Ein Autokonvoi ethnischer Armenier aus Berg-Karabach fährt über den Lachin-Korridor nach Kornidzor bewegt sich nach Kornidzor.

Ein Autokonvoi ethnischer Armenier aus Berg-Karabach fährt über den Lachin-Korridor nach Kornidzor bewegt sich nach Kornidzor.

Foto: dpa/Vasily Krestyaninov

Der armenische Botschafter in Deutschland, Viktor Yengibayran, befürchtet nach der Eroberung von Berg-Karabach durch Aserbaidschan auch einen Angriff des Nachbarlandes auf Armenien selbst. „Wir hören aus Baku sehr viel Aggressivität, Bedrohungen und Hassrede, nicht nur gegen Berg-Karabach sondern auch gegen die Republik Armenien“, sagte Yengibayran dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Diesbezügliche Warnungen kamen zuvor auch aus dem Auswärtigen Amt in Berlin.

„Es gibt bei uns Befürchtungen, dass Aserbaidschan letztendlich zu weit geht und auch einen Angriff auf Armenien veranlasst“, sagte Yengibayran. Er betonte, Armenien sei nach wie vor daran interessiert, mit Aserbaidschan eine regionale Kommunikation zu eröffnen, die es bislang nicht gebe. Als Voraussetzung nannte der Botschafter aber die Anerkennung international gültiger Prinzipien wie internationales Recht, Souveränität und Gegenseitigkeit.

Das Vorgehen Aserbaidschans im bislang vorwiegend von ethnischen Armeniern bewohnten Berg-Karabach bezeichnete Yengibayran als „Kriegsverbrechen“ und rief deswegen zu einer Einflussnahme der internationalen Gemeinschaft auf. „Wir hoffen, dass die internationale Gemeinschaft ganz konkrete Schritte unternimmt und aktiv wird, sonst wird sich die Aggressivität Aserbaidschans steigern“, warnte der Botschafter. Hoffnungen setzte er auf ein Spitzentreffen auf europäischer Ebene am 5. Oktober im spanischen Granada unter Teilnahme von Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan und Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew.

Ein Sprecher des Auswärtigen Amts hatte zuvor auf Beratungen über Sanktionen gegen Aserbaidschan in der EU hingewiesen. Für Deutschland sei dabei wichtig, dass Aserbaidschan „seiner Verantwortung für die noch in Bergkarabach verbliebene Zivilbevölkerung nachkommt und diese umfassend schützt“ und „dass die Souveränität und territoriale Integrität Armeniens gewahrt bleibt“, sagte er. Bislang scheiterten EU-Sanktionen gegen Aserbaidschan allerdings vor allem am Widerstand Ungarns.

Am 19. September hatte Aserbaidschan eine großangelegte Militäroffensive in der umstrittenen Region gestartet. Die meisten in Berg-Karabach lebenden Armenierinnen und Armenier sind inzwischen von dort nach Armenien geflohen.

Bei der Explosion eines Treibstofflagers in Berg-Karabach sind nach Behördenangaben deutlich mehr Menschen gestorben als zunächst angenommen. Nach dem Vorfall seien die sterblichen Überreste von „mindestens 170 Menschen“ gefunden worden, erklärte die Polizei der selbsternannten Republik am Freitag. Zuvor waren die Behörden von 68 Toten und rund 200 Verletzten ausgegangen. Unterdessen verließen weitere armenische Bewohner das Gebiet, das vollständig in aserbaidschanische Kontrolle übergehen soll.

Die Überreste der Opfer der Explosion sollen nach Angaben der Polizei zur Identifizierung nach Armenien geschickt werden. Die Zahl der Verletzten beläuft sich den Behörden zufolge inzwischen auf 349. An dem am Montagabend detonierten Treibstofflager hatten sich viele Menschen nach der aserbaidschanischen Militäroffensive gegen die pro-armenischen Kämpfer in Berg-Karabach mit Treibstoff für ihre Flucht nach Armenien eingedeckt.

Die Auswanderung der armenischen Bewohner Berg-Karabachs über die einzige Straßenverbindung nach Armenien ging indes am Freitag weiter. Die Nachrichtenagentur AFP beobachtete zahlreiche Flüchtlinge, die aus Berg-Karabach kommend in der armenischen Grenzstadt Goris ankamen. Bis Freitag hatten nach Angaben der armenischen Regierung 88.780 Menschen Berg-Karabach in Richtung Armenien verlassen. Das entspricht fast drei Vierteln der rund 120.000 ethnischen Armeniern, die in der Kaukasusregion lebten.

Die Bundesregierung pochte unterdessen erneut auf die Rechte der armenischen Bevölkerung Berg-Karabachs. Es sei die Hoffnung Berlins, dass künftig auf dem Gebiet Bedingungen herrschten, unter denen „die Karabach-Armenier weiter in Frieden dort leben können“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts.

Berg-Karabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, es leben dort aber überwiegend ethnische Armenier. Die Region hatte sich 1991 nach einem international nicht anerkannten und von der aserbaidschanischen Minderheit boykottierten Referendum für unabhängig erklärt.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion lieferten sich Aserbaidschan und Armenien zwei Kriege um die Region, zuletzt im Jahr 2020. Damals hatte das traditionell mit Armenien verbündete Russland nach sechswöchigen Kämpfen mit mehr als 6500 Toten ein Waffenstillstandsabkommen vermittelt, das Armenien zur Aufgabe großer Gebiete zwang.

Am 19. September startete Aserbaidschan dann eine großangelegte Militäroffensive in Berg-Karabach. Bereits einen Tag später mussten sich die pro-armenischen Kämpfer in der Region geschlagen geben - ein bedeutender Sieg für den aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew.

Das lange mit Armenien verbündete Russland gab am Freitag bekannt, dass es mit Aserbaidschan über die Zukunft der seit 2020 aktiven russischen Friedensmission in Berg-Karabach entscheiden werde. „Da sich die Mission nun auf aserbaidschanischem Territorium befindet, wird dieser Punkt mit der aserbaidschanischen Seite diskutiert werden“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow auf die Frage eines Journalisten.

Die russischen Kräfte hatten sich der aserbaidschanischen Offensive am 19. September nicht entgegengestellt - was die armenischen Separatisten als Verrat betrachten.

Die EU rief Aserbaidschan auf, UN-Beobachter nach Berg-Karabach zu lassen. Eine entsprechende Mission müsse in den kommenden Tagen erfolgen, erklärte ein Sprecher der EU-Kommission in Brüssel. Die Menschen dort bräuchten dringend humanitäre Hilfe.

Armenische Gruppierung riefen derweil für Sonntag im Brüsseler Europaviertel zu einer Demonstration gegen den aserbaidschanischen Militäreinsatz in Berg-Karabach auf. Erklärtes Ziel der Veranstaltung ist es, die EU zu einer „internationalen und humanitären Präsenz in Armenien“ zu drängen und Sanktionen gegen Aserbaidschan zu fordern.

Der SPD-Politiker Nils Schmid hat vor einer weiteren Eskalation des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan gewarnt und eine härtere Gangart der EU gegen die Regierung in Baku gefordert. „Wenn Aserbaidschan armenisches Gebiet angreift, sollten Deutschland und die EU die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Aserbaidschan stoppen und ein Sanktionsregime einrichten“, sagte der außenpolitische Sprecher der SPD der Nachrichtenagentur Reuters am Mittwochabend. „Aufgrund Aserbaidschans militärischer Aggression droht eine ethnische Säuberung in Bergkarabach“, kritisierte Schmid zugleich. „Eine Ausweitung auf armenisches Staatsgebiet ist möglich und würde das Land massiv weiter destabilisieren.“

„Die EU muss jetzt hart und schnell reagieren, härter und schneller als bisher“, sagte er zudem. Zu lange habe man „den hohlen Friedensbeteuerungen des autoritären Regimes“ in Baku Glauben geschenkt. Internationale Beobachter müssten besseren Zugang zum Kriegsgebiet erhalten. Die EU-Grenzbeobachter in Armenien benötigten mehr Personal und bessere technische Ausstattung, etwa mit Aufklärungsdrohnen und Nachtsichtgeräten. Unerlässlich sei zusätzliche humanitäre Hilfe für Armenien, insbesondere bei der Unterbringung von Flüchtlingen und mit einer zügigeren Visaliberalisierung.

Die Caritas international stellt für die aus der Krisenregion Berg-Karabach fliehenden Armenier 300.000 Euro bereit. Die Situation spitze sich zu, Armenien rechne damit, dass fast alle Armenier die Krisenregion verlassen, so Caritas international am Mittwoch in Freiburg. „Der Exodus hat begonnen, nur sehr wenige werden bleiben“, sagte Caritas-Experte Martin Thalhammer. Ein Drittel der geschätzten 120.000 Bewohner sei bereits gegangen. Wichtig seien nun Nothilfen für die Flüchtlinge genauso wie Unterstützung bei der langfristigen sozialen und wirtschaftlichen Integration in Armenien.

Mehr als 50 000 Menschen sind inzwischen aus der von Aserbaidschan zurückeroberten kaukasischen Konfliktregion Berg-Karabach nach Armenien geflohen. Dies teilte die Pressesekretärin des armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan, Naseli Bagdasarjan, am Mittwoch mit. In der Ortschaft Kornidsor sei ein Auffanglager eingerichtet worden. Die armenische Regierung hat versprochen, allen Flüchtlingen eine Unterkunft zu besorgen.

Der aserbaidschanische Grenzschutz hat nach eigenen Angaben den früheren Chef der Separatistenregierung in Berg-Karabach festgenommen. Ruben Wardanjan sei in Gewahrsam genommen worden, als er versucht habe, die Grenze nach Armenien zu überqueren, teilte der Grenzschutz am Mittwoch mit. Wardanjan war mehrere Monate lang Chef der Regionalregierung, bevor er in diesem Jahr zurücktrat.

Der aserbaidschanische Grenzschutz teilte mit, Wardanjan sei in die Hauptstadt Baku eskortiert und den zuständigen staatlichen Stellen übergeben worden. Der Grenzschutzdienst veröffentlichte ein Bild von Wardanjan, der von zwei Grenzsoldaten neben einem Hubschrauber festgehalten wird. Der Milliardär brachte es in Russland zu Geld, wo er Besitzer einer Investmentbank war. Dann zog er 2022 nach Berg-Karabach, eine bis vor kurzem von Separatisten regierte armenische Enklave in Aserbaidschan.

Nach der Explosion eines Treibstofflagers in Berg-Karabach ist die Zahl der Todesopfer auf mindestens 68 gestiegen. Wie die Regierung der selbst ernannten Republik am Dienstag mitteilte, wurden zudem 290 Menschen verletzt, 105 werden noch vermisst. Das Treibstofflager, an dem viele Menschen sich mit Treibstoff für die Flucht nach Armenien eingedeckt hatten, war am Montagabend explodiert.

Die EU stockt ihre humanitäre Hilfe für Berg-Karabach auf fünf Millionen Euro auf. Das teilte die Kommission in Brüssel am Dienstag mit. Es gelte, sich auf die Unterstützung von Tausenden vorzubereiten, die aus der Region fliehen wollten, gerade mit Blick auf den bevorstehenden Winter, so der zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic.

Bislang haben nach EU-Angaben etwa 13.500 Flüchtlinge aus Berg-Karabach die Grenze zum benachbarten Armenien überquert. In der von Armeniern bewohnten Enklave, die auf aserbaidschanischem Staatsgebiet liegt, gibt es demnach erhebliche Nahrungsmittelknappheit sowie Engpässe bei der Strom- und Wasserversorgung.

Die EU-Unterstützung umfasst jene 500.000 Euro Soforthilfe, die am vergangenen Donnerstag angekündigt wurde, sowie 4,5 Millionen Euro neue Mittel. Das Geld ist zum einen für rund 25.000 Geflüchtete gedacht, zum anderen für etwa 60.000 Menschen in Berg-Karabach, die mit Nahrungsmitteln, medizinischer Hilfe und Unterkünften versorgt werden sollen. Die EU arbeitet mit Hilfswerken in Armenien und mit dem Internationalen Roten Kreuz in Berg-Karabach zusammen.

Zunächst blieb unklar, was die Katastrophe in der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region auslöste, die in der vergangenen Woche von Aserbaidschan angegriffen und besiegt wurde.

Die Behörden hatten nach der Explosion zunächst von mindestens 200 Verletzten gesprochen. Auf Fotos in sozialen Netzwerken waren große Flammen zu sehen. Die Politikerin Metakse Akopjan erklärte, an dem Lager hätten zum Zeitpunkt des Unglücks viele Menschen für Benzin angestanden, weil sie mit Autos vor den Aserbaidschanern nach Armenien fliehen wollten. Das Menschenrechtsbüro der Region appellierte an die Weltgemeinschaft, dass es dringend notwendig sei, insbesondere schwer verletzte Menschen zur Behandlung auszufliegen. „Die medizinischen Kapazitäten Bergkarabachs sind nicht ausreichend, um die Leben der Menschen zu retten“, hieß es in der Mitteilung auf der früher als Twitter bekannten Plattform X.

Am vergangenen Dienstag dann startete das autoritär geführte Aserbaidschan eine Militäroperation zur Eroberung Berg-Karabachs. Nur einen Tag später ergaben sich die unterlegenen Karabach-Armenier. Während der kurzen Kämpfe starben armenischen Angaben zufolge mehr als 200 Menschen, mehr als 400 weitere wurden demnach verletzt. Die Zehntausenden armenischen Zivilisten in der Region fürchten nun, vertrieben oder von den neuen aserbaidschanischen Machthabern unterdrückt zu werden.

Dieser Artikel wurde aktualisiert.

(kalux/kna/jh/dpa/afp/reuters)
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