Putin nutze „Kälte als Kriegswaffe“ Baerbock geißelt Putins Ukraine-Krieg als „Zivilisationsbruch“

Kiew/Bukarest · Es ist eine Formulierung, die aufhorchen lässt: Die deutsche Außenministerin nutzt für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine einen Begriff, der oft für den Holocaust verwendet wird. Die Not im Land erschüttert viele.

 Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock trifft am ersten Tag des Treffens der Nato-Außenminister in Bukarest, Rumänien, ein.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock trifft am ersten Tag des Treffens der Nato-Außenminister in Bukarest, Rumänien, ein.

Foto: AP/Andreea Alexandru

Immer neue Raketen und Gefechte, Stromausfälle und Kälte: Wegen der Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine wirft Außenministerin Annalena Baerbock Russland jetzt sogar einen „Bruch der Zivilisation“ vor - ein Begriff, der oft im Zusammenhang mit dem Holocaust verwendet wird. Ein solches Vorgehen sei für sie lange unvorstellbar gewesen, sagte die Grünen-Politikerin am Dienstag bei einem Nato-Treffen in Bukarest. Der Westen versucht nun, für die Ukraine weitere Hilfe zu mobilisieren. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) telefonierte mit Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Luftalarm in der ganzen Ukraine

Am Dienstagmittag wurde über der gesamten Ukraine Luftalarm ausgelöst. In der Hauptstadt Kiew dauerte der Alarm zwölf Minuten. Bereits in der Nacht waren nach ukrainischen Angaben vier Raketen in der Großstadt Dnipro eingeschlagen und hatten Produktionsanlagen eines Unternehmens schwer beschädigt. Dabei sei aber niemand verletzt oder getötet worden. Auch die weiter südlich gelegene Stadt Nikopol am Fluss Dnipro sei beschossen worden.

Das russische Verteidigungsministerium sprach seinerseits von weiteren Angriffen auf ukrainische Truppen an der Front im Gebiet Donezk, wo seit Monaten um die Städte Bachmut und Awdijiwka gekämpft wird. Der ukrainische Generalstab bestätigte massive russische Truppenkonzentrationen an diesen Abschnitten. Ein Stück weiter nördlich bei den Städten Kupjansk und Lyman wehrten russische Truppen nach Moskauer Angaben ukrainische Angriffe ab. Das passt zu ukrainischen Angaben, dass dort die Russen in der Defensive seien. Die Angaben der Kriegsparteien sind kaum unabhängig zu bestätigen.

Verteidigungsminister spricht von 16 000 Raketen seit Kriegsbeginn

Russland hatte die Ukraine am 24. Februar überfallen. Seit Tagen befürchtet die Regierung in Kiew weitere massive Attacken mit Langstreckenraketen wie vergangene Woche, als fast im ganzen Land die Stromversorgung zusammenbrach. Weil ständig Kraftwerke und Leitungen zerstört werden und wieder repariert werden müssen, gibt es vielerorts oft bei Eiseskälte nur stundenweise Strom oder Heizwärme.

Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow hatte dazu am Montag ungewöhnliche Zahlen genannt: Seit Kriegsbeginn habe Russland mehr als 16 000 Raketen eingesetzt. In 97 Prozent der Fälle seien zivile Ziele ins Visier genommen worden. „Wir kämpfen gegen einen terroristischen Staat“, schrieb Resnikow auf Twitter. Seine Zahlen decken sich allerdings nicht mit denen Selenskyjs. Der Präsident hatte vor einer Woche von knapp 4700 Raketen seit Kriegsbeginn gesprochen.

Baerbock: Putin nutzt „Kälte als Kriegswaffe“

Baerbock zeigte sich am Rande eines Treffens der Nato-Außenminister in Rumänien erschüttert über die russische Strategie. „Dass dieser brutale Bruch der Zivilisation so geführt wird - also ich hätte mir das in den letzten Jahren niemals vorstellen können“, sagte die Ministerin. „Wenn gezielt Infrastruktur bombardiert wird, dann nimmt man mutwillig in Kauf, dass Kinder, dass Alte, dass Familien erfrieren, dass sie verdursten, dass sie verhungern.“ Kremlchef Wladimir Putin setze „Kälte als Kriegswaffe“ ein.

Der Begriff „Bruch der Zivilisation“ wird oft als Beschreibung für den Holocaust genutzt, die nahezu weltweit gebräuchliche Bezeichnung für den Völkermord an Europas jüdischer Bevölkerung durch die Nationalsozialisten mit etwa sechs Millionen Toten. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg formulierte in Bukarest: „Wir sehen, dass Präsident Putin versucht, den Winter als Kriegswaffe einzusetzen.“ Deswegen müsse man die Unterstützung ausbauen.

Russland greife nun zivile Ziele und Städte an, weil es keine Geländegewinne mehr mache und verhindern wolle, dass die Ukraine weitere Gebiete befreie, sagte der Norweger. Er warb für die Lieferung zusätzlicher Flugabwehrsysteme an die Ukraine und Hilfe für die Reparatur zerstörter Infrastruktur. Er erwarte, dass von den Bündnispartnern die Botschaft komme, dass man mehr tun müsse.

Scholz telefoniert mit Selenskyj

Bei dem Telefonat von Scholz und Selenskyj ging es nach ukrainischen Angaben auch um eine Stärkung der ukrainischen Raketenabwehr. Selenskyj berichtete auf Twitter, auch die Umsetzung einer Initiative zur Lieferung von ukrainischem Getreide an arme Länder sei besprochen worden. Zudem sei die „ukrainische Friedensformel“ diskutiert worden. Damit ist ein kompletter Abzug der russischen Truppen vom ukrainischen Territorium in den Grenzen von 1991 gemeint. Aus dem Kanzleramt gab es dazu zunächst keine Angaben.

Steinmeier bittet um Spenden

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bat um Spenden für die Ukraine, damit Hilfsorganisationen etwa Generatoren oder Heizgeräte beschaffen könnten. „Millionen von Ukrainern stehen jetzt vor einem Winter in großer Not, Dunkelheit und Kälte“, sagte der frühere Außenminister. Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko und die Frau des ukrainischen Präsidenten, Olena Selenska, richteten ebenfalls Hilfsappelle an die internationale Gemeinschaft.

G7 koordinieren Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine

Um Ermittlungen zu den in der Ukraine verübten Kriegsverbrechen besser zu koordinieren berieten sich die Justizminister der G7-Staaten in Berlin. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte, es gehe vorrangig darum, Beweismaterial zu sichern und Doppelarbeit zu vermeiden. Opfer, die Zeugenaussagen machten, sollten zu ihren traumatisierenden Erlebnissen beispielsweise nicht mehrfach aussagen müssen. Von der Zusammenkunft gehe das Signal aus: „Kriegsverbrechen dürfen nicht ungesühnt bleiben.“

(mzu/dpa)
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