Gegen Bürgerwillen Ungarn und Polen schüren Sorgen vor EU-Austritten

Budapest · Die Spannungen zwischen der EU und Warschau sowie Budapest nehmen zu. Die rechtspopulistischen Regierungen drohen mehr oder minder offen mit Huxit und Polexit. Doch die Bürger sind ganz anderer Meinung.

Mateusz Morawiecki (l), Ministerpräsident von Polen, und Viktor Orban, Ministerpräsident von Ungarn bei einer Pressekonferenz im September 2020 (Archivfoto).

Mateusz Morawiecki (l), Ministerpräsident von Polen, und Viktor Orban, Ministerpräsident von Ungarn bei einer Pressekonferenz im September 2020 (Archivfoto).

Foto: dpa/Czarek Sokolowski

Beim EU-Beitritt Ungarns und Polens dürstete es viele in diesen Ländern nach westlichen Demokratiestandards und Wohlstand. Doch 17 Jahre später vergleichen Vertreter der rechtspopulistischen Regierungen in Budapest und Warschau den Staatenbund mit den ehemaligen sowjetischen Unterdrückern und drohen gar mit Austritt. Grund ist das härtere Vorgehen der Europäischen Union gegen demokratische Rückschritte in beiden Staaten.

Brüssel wolle Polen in die Knie zwingen, sagte Marek Suski, ein einflussreicher Abgeordneter der Regierungspartei PiS. Sein Land werde die „Brüsseler Besatzungsmacht“ genauso bekämpfen, wie es in der Vergangenheit die Besatzer von Nazi-Deutschland und der Sowjetunion bekämpft habe.

Inwieweit hinter solchen Ansagen tatsächlich der Wunsch steht, die EU zu verlassen, oder eine Verhandlungstaktik, ist unklar. Polen und Ungarn sind die größten Nettoempfänger von EU-Geldern, und die Mehrheit der Bevölkerung will in dem Verbund bleiben. Doch die Rhetorik hat sich in den vergangenen Monaten verschärft, seit die EU Mitgliedsstaaten für Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit finanziell bestraft. Den beiden engen Verbündeten Ungarn und Polen werden Verstöße gegen die richterliche Unabhängigkeit und die Pressefreiheit vorgeworfen ebenso wie Beschränkungen der Rechte von Minderheiten und Migranten.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban beklagte eine „politische und ideologische Waffe der EU“, mit der einwanderungskritische Länder wie Ungarn erpresst werden sollten. Sein polnischer Kollege Mateusz Morawiecki sprach von einem drohenden Zerfall Europas. Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto betonte, sein Land werde sich durch die Zurückhaltung von EU-Mitteln nicht zu einem Kurswechsel zwingen lassen. Und der Vizechef der polnischen Regierungspartei, Ryszard Terlecki, sagte, sein Land solle überlegen, inwieweit es mit Brüssel kooperieren könne und „drastische Lösungen“ in Betracht ziehen. Später distanzierte er sich von diesen Äußerungen.

Auch Orban hat wiederholt unterstrichen, dass es „ein Leben außerhalb der Europäischen Union“ gebe. Die mit seiner Fidesz-Partei verbundene Tageszeitung „Magyar Nemzet“ schrieb im August: „Es ist Zeit, über den Huxit zu reden“ - also über eine ungarische Version des Brexits vom vergangenen Jahr.

Orbans Gegner befürchten, dass der Regierungschef einen solchen Schritt tatsächlich in Erwägung ziehen könnte. Die liberale Abgeordnete Katalin Cseh äußerte sich empört darüber, dass ranghohe Fidesz-Politiker und Experten offen dazu aufriefen, über einen ungarischen EU-Austritt nachzudenken. „Sie sind bereit, den größten Erfolg unseres Landes in der jüngeren Geschichte zu zerstören“, sagte sie der Nachrichtenagentur AP.

Daniel Hegedus von der US-Stiftung German Marshall Fund jedoch hält es für möglich, dass hinter der ungarischen Rhetorik politisches Kalkül steckt. Die Botschaft der ungarischen Regierung an die EU laute: „Wenn ihr uns das Geld nicht gebt, dann können wir noch ungemütlicher für euch werden“, sagt er.

Aktuellen Umfragen zufolge sprechen sich jeweils deutlich mehr als 80 Prozent der Polen und Ungarn für einen Verbleib in der EU aus. Das schien auf beide Regierungen zuletzt Eindruck zu machen. Orban sagte in der vergangenen Woche in einem Radiointerview, Ungarn werde „zu den letzten in der EU gehören, sollte sie jemals aufhören zu existieren“. Der einflussreichste polnische Politiker Jaroslaw Kaczynski betonte, die Zukunft seines Landes liege in der EU, und es werde „keinen Polexit“ geben.

Der politische Analyst Jacek Kucharczyk, Präsident des Warschauer Thinktanks Institut für Öffentliche Angelegenheiten, spricht von einem Dilemma der polnischen Regierungspartei. Einerseits stärke die PiS mit ihrem Streit mit Brüssel ihre nationalistische Basis, sagt er. Andererseits seien ihre Optionen angesichts der pro-europäischen Haltung der Bevölkerung beschränkt. „Das Ergebnis ist eine Art Balanceakt“, erklärt der Experte: „Scharfe Töne über die EU, denen umgehend vehemente Beteuerungen folgen, dass sie keinen Austritt Polens aus der Union wollen“.

Doch der polnische Oppositionsführer und ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk warnt davor, dass die Anti-Europa-Rhetorik außer Kontrolle geraten und ungewollt einen Prozess anstoßen könnte, der sich nicht mehr aufhalten lasse. „Katastrophen wie zum Beispiel der Brexit oder der mögliche Austritt Polens aus der EU geschehen sehr oft nicht deshalb, weil jemand sie geplant hat, sondern weil jemand nicht wusste, wie eine kluge Alternative geplant werden könnte“, sagt er.

Einige Staats- und Regierungschefs in Europa haben bereits die Geduld mit Polen und Ungarn verloren. Als Budapest im Juni ein Gesetz verabschiedete, das sich nach Ansicht von Kritikern gegen LGBTQ-Menschen richtet, sagte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, Ungarn habe in der EU nichts mehr zu suchen. LGBTQ ist die englische Abkürzung für lesbisch, schwul, bisexuell, transgender und queer.

Die Europa-Abgeordnete Cseh unterstreicht, dass ein Huxit eindeutig gegen den Willen der ungarischen Bevölkerung wäre: „Und wir werden für den hartverdienten Platz unseres Landes in der europäischen Gemeinschaft mit allen Mitteln kämpfen, die uns zur Verfügung stehen.“

(peng/dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort