Erneut Ausschreitungen in Caracas In Venezuela tobt der Machtkampf weiter

Caracas · Venezuela könnte aufgrund der weltgrößten Ölvorräte reich sein. Trotzdem herrscht die höchste Inflation der Welt. Es gibt zu wenig Brot. Wasser ist teurer als Benzin. Nun haben Millionen den Sozialismus satt und rebellieren.

Auschreitungen in Caracas: Ausschreitungen bei Demonstration gegen Maduro
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Venezuela: Caracas erlebt die "Mutter aller Märsche"

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Foto: ap, RM

Carlos Moreno hatte gerade erst mit dem Studium der Wirtschaftswissenschaften begonnen. Nun ist er tot, gestorben bei der "Mutter aller Demonstrationen" durch einen Kopfschuss in seinem Kampf für ein besseres Venezuela. Er wurde noch per Motorrad zum Hospital de Clínicas in Caracas gebracht, aber Ärzte konnten den 17-Jährigen nicht mehr retten. Als Täter werden radikale Milizen der Sozialisten vermutet, die vermummt auf Motorrädern Demonstranten angreifen.

Die Zeichen stehen auf Sturm, das einst reichste Land Südamerikas, beliebt bei Touristen, steht nach 18 Jahren Sozialismus vor dem Ruin. Hunderttausende Menschen säumen inzwischen fast täglich die Straßen des Landes mit den größten Ölreserven der Welt, ein großes Meer aus gelb-blau-roten Fahnen. Die Schlachtrufe: "No mas dictadura", "keine Diktatur mehr" und: "Sí, se puede", "Ja, wir schaffen das."

Maduro nennt Demonstranten "Terroristen"

Neben Moreno starb noch eine junge Frau, es gab über 400 Festnahmen, Caracas lag unter Tränengaswolken. Aber auch ein Polizist starb, Präsident Nicolás Maduro sieht die Demonstranten als "Terroristen". Bisher kamen bei den Protesten neun Menschen ums Leben.

Der frühere Busfahrer inszeniert sich als "Hijo", als "Sohn" des 2013 verstorbenen Hugo Chávez und ruft nun alle "Chavistas" zum Kampf auf. Schuld an der dramatischen Krise mit fehlenden Lebensmitteln und Medikamenten sei ein Wirtschaftskrieg des Auslands - und der niedrige Ölpreis. Wenn mal wieder der Strom knapp wird, ruft er Frauen auch schon einmal dazu auf, doch bitte auf das Föhnen zu verzichten. Bei einer täglichen Salsa-Show aus seinem Palast schwingt er auch schon einmal das Tanzbein. Doch hinter dieser recht karibischen Fassade tobt ein erbitterter "Revolutionskampf", ein Freund-Feind-Denken.

Droht ein Bürgerkrieg? Maduro lässt derzeit rund 500.000 Milizionäre mit Gewehren ausrüsten. Das Land hat sich unter ihm zu einem der bizarrsten und gefährlichsten der Welt entwickelt. 28.479 Morde wurden 2016 registriert. Reich an Öl und Wasser, aber an Tankstellen geht das Benzin aus. Trinkwasser ist Mangelware. Für Brot fehlt Mehl.

Und Maduro zieht die Schrauben an, wittert eine Putsch- und Interventionsgefahr: "Die USA haben grünes Licht dafür gegeben", meint er. Namentlich Parlamentspräsident Julio Borges wirft er vor, mit dem Ausland gemeinsame Sache zu machen. Aber das Parlament existiert ohnehin eigentlich nur noch auf dem Papier, dessen zeitweilige Entmachtung war der Auslöser der Massenproteste.

Ein Besuch in Caracas, der Frontstadt eines ums Überleben kämpfenden "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", gibt Einblicke in einen Alltag, den viele nicht mehr ertragen - Zehntausende sind schon geflüchtet.

Polizisten rauben Taxis aus

Da sind zum Beispiel die Mafiastrukturen und die Unsicherheit. Wenn der Flughafen die Visitenkarte eines Landes ist, sagt der Airport Simón Bolívar viel über Venezuela anno 2017 aus - es gibt kaum noch Flüge hierhin. Die bestellte Fahrerin ist hochnervös, zwei Polizisten hätten sich gerade Zeichen gegeben, das Auto zu überfallen. Es geht über mehrere Kilometer einen Berg hinauf, immer wieder würden Autos mit Waffengewalt angehalten und Fahrgäste ausgeraubt, erzählt sie und gibt mächtig Gas. Heil angekommen in Caracas, bekreuzigt sie sich.

Die höchste Inflation der Welt

Da ist zum Beispiel die mit mehr als 700 Prozent höchste Inflation der Welt: Für einen Euro gibt es auf dem Schwarzmarkt 4900 Bolivares, bis vor kurzem war der 100er der größte Schein. Macht 49 Scheine für einen Euro. Dann führte Maduro neue Scheine ein, aber der größte, der 20.000-er ist noch mehr Mangelware als Brot, Papier und Tinte fehlen. Der Mindestlohn beträgt umgerechnet noch rund zehn Euro im Monat.

Auch weil das Land ständig am Rande der Pleite steht und die Schulden bedienen muss, fehlt Geld, um im Ausland Lebensmittel und Medikamente einzukaufen. Ein Grund für die Knappheit ist auch die irrwitzige Subventionierung von Benzin von acht bis zehn Milliarden Dollar im Jahr, in Zeiten der heimischen Geldentwertung immer schwieriger zu finanzieren. Auf den Demonstrationen gibt es die Flasche Wasser für 1500 Bolivares, dafür bekommt man an der Tankstelle 250 Liter Benzin.

Eine Flasche Wasser ist soviel wert wie 250 Liter Benzin

Wer nicht mit den Sozialisten ist, ist im Nachteil. Um in den Genuss von Lebensmittelpaketen zu kommen (ein Liter Öl, zwei Kilo Reis, zwei Dosen Thunfisch, Milchpulver, zwei Kilo Mehl) muss man ein "Carnet de la Patria" beantragen - und erklären, die Regierung zu unterstützen. Alle anderen müssen in Schlangen vor oft leeren Supermärkten stehen. Zu all den Absurditäten meint der Universitätsprofessor Alex Fergusson: "Das hat inzwischen Züge einer Tragikomödie."

Wer Maduro die Stirn bietet, lebt gefährlich. Das zeigt auch ein Treffen mit Freddy Guevara, dem Vizepräsidenten des Parlaments. Er ist einer der Hoffnungsträger und Wortführer. Der 31-Jährige kommt aus der Studentenbewegung und will mit den Protesten rasche Neuwahlen und einen Machtwechsel erzwingen. Er lebt in einer hermetisch abgeriegelten Hochhausanlage, ein Sicherheitsmann checkt vor dem Eingangstor die Lage, dann geht es rauf und runter per Wagen durch ein Parkhaus, hinein in einen Aufzug, der nur mit spezieller Karte bedient werden kann. Die Wohnung ist klein, er ist übernächtigt von den Protesten, in der Ecke steht eine Gitarre, er ist Musiker.

Im Bücherregal findet sich unter anderem ein Buch mit dem Titel "Tools for Radical Democracy" - "Anleitung für radikale Demokratie". Davon ist Venezuela gerade weit entfernt. Er warnt, alle Maßnahmen der Sozialisten zu verteufeln; Sozialprogramme seien die Grundlage für sozialen Frieden. Wegen der enorm hohen Verschuldung brauche Venezuela aber einen Schuldenschnitt - und eine Diversifizierung der Wirtschaft. 90 Prozent der Einnahmen kämen aus dem Erdölgeschäft, fatal bei fallenden Preise. Eines müsse allen klar sein in diesen Tagen. "Wenn wir den Weg der Gewalt einschlagen, verlieren wir."

(felt/AFP/ap/dpa)
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