Serie: Frankreich vor der Wahl (3) Aufstand der Vorstädte

Paris (RPO). Aufstand der Vorstädte Frankreich hat zu lange die Augen vor seinem Ausländerproblem verschlossen. Nach den Krawallen im Jahr 2005 müssen die Politiker erkennen: Millionen Franzosen mit ausländischer Herkunft sind Fremde im eigenen Land.

Diese Bilder prägten Sarkozys erstes Jahr
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Die Wände sind himmelblau gestrichen. In einer Ecke hängen die französische Trikolore und das europäische Sternenbanner, gegenüber das Porträt von Staatschef Chirac. An Tischen sitzen Afrikaner, Asiaten, eine weiße US-Amerikanerin. Alle wollen sie eine Aufenthaltsgenehmigung und müssen deswegen in der "Agentur für Ausländereingliederung" Staatsbürgerkunde pauken. Seit Anfang des Jahres sind diese Kurse Pflicht, ebenso wie ein Sprachtest. Die Kandidaten sind motiviert. "Man kann nicht in einem Land leben, von dessen Gesetzen man keine Ahnung hat", sagt ein Algerier.

An diesem Nachmittag wird in einem Pariser Vorort Integrationspolitik wie aus dem Lehrbuch praktiziert - der Idealfall. Die harte Wirklichkeit sieht anders aus. Nicht bei der Eingliederung von einigen Zehntausend Neu-Franzosen hat Frankreich versagt, sondern bei der Integration von Millionen Bürgern ausländischer Herkunft, die teilweise schon in der zweiten oder dritten Generationen im Land leben, aber weiter am Rande der Gesellschaft stehen. Die Banlieues, die Vorstädte, sind zu verwahrlosten Einwanderer-Ghettos verkommenen. Dort zeigt sich: Die Ideale der Republik, die feierlich propagierte Gleichheit und Brüderlichkeit, sind längst Illusion.

Theorie und Wirklichkeit klaffen auseinander

Das Auseinanderklaffen der republikanischen Theorie und der Alltagswirklichkeit lässt sich spätestens seit den nächtelangen Vorstadt-Unruhen vom Herbst 2005 nicht mehr übertünchen "Die Sprache der Republik ist Französisch", heißt es in der französischen Verfassung. Doch in etlichen Schulen der Ballungsgebiete reden inzwischen Dreiviertel der Kinder untereinander arabisch. Längst sind Parallelgesellschaften entstanden.

Der Staat ist hilflos. Jetzt rächt sich, dass man lange Zeit die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen hat. So weiß man noch nicht einmal genau, wie viele Einwanderer in Frankreich leben. Weil es dem geheiligten Prinzip der Gleichheit zuwiderliefe, zwischen den Bürgern aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Religion zu unterscheiden, werden bis heute keine offiziellen Statistiken über Ausländer geführt. Aber was bringt das schon, wenn selbst in der dritten Generation Einwanderer immer noch diskriminiert werden? Wer das Pech hat und aus dem brenzligen Departement Seine-Saint-Denis nördlich von Paris kommt, wer einen Namen hat, der arabisch oder afrikanisch klingt, hat selbst mit gutem Schulabschluss auf dem Arbeitsmarkt keine Chance.

Sarkozy mit Law-and-Order-Parolen

Da ist es schon überraschend, dass dieses Thema erst jetzt erstmals in einem Wahlkampf eine große Rolle spielt. Seit der für seine Law-and-Order-Parolen bekannte konservative Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy mit kalkulierter Provokation vorgeschlagen hat, ein "Ministerium für Integration und nationale Identität" zu schaffen, wird heftig darüber debattiert, was die französische Identität eigentlich ausmacht. Das ist neu. Ähnliche Diskussionen in Deutschland ("Leitkultur") hatten französische Politiker früher immer nur spöttisch belächelt.

Die Jugendlichen draußen in den verwahrlosten Vorstädten wollen dazugehören, wissen aber meist nicht genau, ob sie nun Franzosen oder Algerier, Mauretanier, Senegalesen oder keines davon sind. Als einziger Anknüpfungspunkt für eine Identität dient vielen von ihnen die Religion ihrer Eltern, der Islam - der sie erst recht zu sozialen Verlierern stempelt. Die Pariser Soziologin Dominique Schnapper sagt es mit brutaler Direktheit: "Die geopolitische Lage spielt ebenfalls eine Rolle. So sind zwar nicht alle Moslems Terroristen, aber alle Terroristen moslemisch. Das macht die Integration natürlich nicht einfacher."

(RP)
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