Interview mit dem Militärexperten Alexander Golts „Wem geht zuerst die Puste aus?“

Moskau · Weil sowohl in Russland wie in den USA die Atomwaffenkontrolle für verzichtbar gehalten wird, steuert die Welt auf ein neues Wettrüsten zu.

 Die russische Armee präsentierte Ende Januar den umstrittenen Marschflugkörper 9M729, dessen Lei­stungsdaten nach Überzeugung der Nato den INF-Vertrag verletzen.

Die russische Armee präsentierte Ende Januar den umstrittenen Marschflugkörper 9M729, dessen Lei­stungsdaten nach Überzeugung der Nato den INF-Vertrag verletzen.

Foto: AP/Pavel Golovkin

Alexander Golts ist Militärexperte und Redakteur des kritischen Internetportals „Jeschedewnij Schurnal“. Während eines Studienaufenthalts an der Stanford University schrieb er zum Thema „Russlands Armee: elf verlorene Jahre“.

Herr Golts, Washington und Moskau haben sich aus dem INF-Vertrag zurückgezogen. Was bedeutet das für Russland?

Golts Nichts Schlimmes, in nächster Zeit zumindest. Die USA kündigten den Vertrag auf und warfen Russland zurecht vor, nicht nur gegen ihn verstoßen, sondern gleichzeitig auch militärische Überlegenheit erreicht zu haben. In Zukunft könnte die Aufkündigung des Vertrags jedoch zu einer atomaren Katastrophe führen.

Russland wirft den USA auch Vertragsverletzungen vor – zurecht?

Golts Moskau bemängelt, dass die Tomahawk-Marschflugkörper auf Abschussvorrichtungen des Mk-41 Systems montiert werden können. Die Behauptung beruht aber nur auf theoretischen Annahmen. Bislang hat niemand eine Rakete aufgestellt, und es gibt auch keine entsprechenden Tests.

Sind das Probleme, die ein neues Wettrüsten rechtfertigen könnten?

Golts Weder die russischen noch die amerikanischen Anschuldigungen sind so gravierend, dass sie sich nicht mit gutem Willen lösen ließen. Doch der gute Wille fehlt.

Woran liegt das?

Golts In Russland und den USA haben sich Denkschulen durchgesetzt, die Atomwaffenkontrolle nicht mehr für nötig halten. Sie lassen sich bewusst auf einen Wettbewerb ein. Nach dem Motto: Wer stellt mehr Raketen her, und wem geht zuerst die Puste aus?

Ist das ein Rückfall in die 80er Jahre vor dem Nato-Doppelbeschluss?

Golts Das ist keine Analogie zu den 80er Jahren, vielmehr kehren wir in die 60er zurück, als es keine vertragliche Regelung gab. Die Lage sieht heute sogar gefährlicher aus als noch in den 80ern. Zum einen entfällt der INF-Vertrag. Unwahrscheinlich scheint nun auch, dass der Start-3-Vertrag zur Begrenzung strategischer Raketen 2021 noch verlängert wird. Außerdem gab es damals die Salt-Verhandlungen zur Begrenzung von Atomwaffen.

Steigt die Bedrohung für alle gleichermaßen, nicht nur für Europa?

Golts Auch Russland befindet sich in einer empfindlichen strategischen Lage. Um diese Schwächen auszugleichen, könnte Russland vom reaktiven Gegenschlag zum präventiven Angriff übergehen. Man muss sich klar machen: Wir sprechen von einer Situation, in der jeder Vorfall eine weltweite Katastrophe nach sich ziehen könnte.

Halten Sie dieses Szenario für eine reale Bedrohung?

Golts Sagen wir es so. Sollte sich die Lage weiter hochschaukeln, dann werden die Amerikaner früher oder später auch in Europa Raketen aufstellen wollen. Zurzeit tun sie zwar so, als seien sie daran nicht interessiert. Sie haben zurzeit auch nichts, was sie stationieren könnten. Sobald die Raketen aber verfügbar sind, werden sie auch in Europa aufgestellt werden.

Sind Russland und die USA für ein neues Wettrüsten bereit?

Golts Sie tun zumindest so. Aber noch jagen sie sich gegenseitig vor allem Angst ein. Der US-Kongress bewilligte in diesem Jahr nur 58 Millionen Dollar für die Raketenproduktion. Und Russland behauptet, über mehrere Raketentypen zu verfügen, die die USA in ihrem Arsenal noch nicht haben. Trotzdem kündigte der Kreml schon an, man werde sofort Gegenmaßnahmen ergreifen, sollten die USA ebenfalls vergleichbare Waffen anschaffen.

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