Tunesien nach den Wahlen Angst vor dem Gottesstaat

Düsseldorf (RPO). In Tunesien nahm der arabische Frühling seinen Anfang. Die Menschen hoffen nun auf einen demokratischen Neuanfang. Gleichzeitig ist der Islam im Land tief verwurzelt. Nach dem Wahlsieg der islamischen Ennahda wächst die Sorge vor den religiösen Eiferern. Das Gespenst eines neuen Gottesstaates nach Vorbild des Iran geht um.

 Rached Ghannouzi, Führer der islamischen Ennahda, wird von seinen Anhängern wie ein Märtyrer verehrt. Er lebte 20 Jahre im Exil.

Rached Ghannouzi, Führer der islamischen Ennahda, wird von seinen Anhängern wie ein Märtyrer verehrt. Er lebte 20 Jahre im Exil.

Foto: AP, dapd

Die islamische Ennahda hat nach allem, was bisher bekannt ist, die Wahlen mit großem Vorsprung gewonnen. In den Auszählungen der aus dem Ausland eingegangenen Wählerstimmen erhielt sie 50 Prozent. Gesamt-Prognosen sehen sie bei 30 Prozent und mehr. Wie die Wahlkommission am Dienstag mitteilte, gewann Ennahda von den bislang 44 feststehenden Mandaten 18.

Sie steht für die eine, die traditionell-islamische Seite des neuen Tunesiens. Für den islamischen Kulturkreis ist das Land liberal. Frauen haben gleiche Rechte. Sie entscheiden selbst, ob sie das Kopftuch tragen. Die Vielehe ist seit der Unabhängigkeit 1956 verboten, die Gleichheit von Mann und Frau gesetzlich verankert. Ein aus dem Koran abgeleitetes Alkoholverbot gibt es nicht. Meinungs- und Religionsfreiheit sind ein hohes Gut.

Die Ennahda gibt sich moderat

Auf der anderen Seite steht die Ennahda mit ihrem Anführer und Parteigründer Rachid Ghannouchi. Er beteuert, eine moderate Politik verfolgen zu wollen. Als Vorbild hat er die türkische Regierungspartei AKP ausgerufen, die den Spagat zwischen Islam und säkularer Demokratie seit mehreren Jahren hinbekommt.

Vor ihrem Wahlerfolg hat Ennahda sich darum bemüht, alle Zweifel zu zerstreuen. Parteigründer Rachid Ghannouchi beteuert: "Wir suchen nach einem Konsens mit den anderen Parteien, weil wir der Überzeugung sind, dass Tunesien in den kommenden fünf Jahren eine Koalitionsregierung braucht."

Sie will alle mitnehmen - auch die Radikalen

"Wir achten die Rechte der Frauen und die Gleichheit aller Tunesier unabhängig von ihrer Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer sozialen Herkunft", sagte ein Führungs-Mitglied vor dem Wochenende.

Seine Partei gibt vor, dass sie alle unter ihrem Dach einbinden kann. Auch die Radikalen. Ennahda — die integrative Kraft, die Partei der nationalen Einheit. Ihr Führer Ghannouchi predigt die Versöhnung von Demokratie und Islam.

Wolf im Schafspelz?

Doch die Zweifler wehren sich. Kritiker halten der Partei vor, sie wolle einen fundamentalistischen Weg beschreiten. Parteichef Ghannouchi halten sie für einen Wolf im Schafspelz. "Sie sprechen mit gespaltener Zunge", sagt auch Hamadi Redissi vom Zentrum für Arabische Forschung und Analyse in Genf. Nach den Wahlen wird die Unruhe größer. Denn Ennahda könnte nachhaltig die verfassungsgebende Versammlung prägen. Die ganze Revolution könnte vergebens gewesen sein, befürchten nun die liberalen Skeptiker.

Sie denken etwa daran, dass auch ein Rachid Ghannouchi eine radikale Vergangenheit hat, sich bei einem Ägypten-Besuch für ein Kalifat aussprach oder im Londoner Exil die Autorität der Scharia über alles andere stellte. Zudem sind da die religiösen Eiferer unter seinen Anhängern. Hunderte von radikalen Salafisten hatten das Haus eines TV-Journalisten Nabil Karoui überfallen und zerstört. Der Grund: Er hatte auf dem Sender den preisgekrönten Zeichentrickfilm "Persepolis" ausstrahlen lassen. Darin wird Gott bildlich als bärtiger Mann dargestellt, was im Koran verboten ist.

Experten gelassen

Allen Befürchtungen zum Trotz steht dem Land ein Einstieg in islamisches Schariarecht, so wie gerade in Libyen angekündigt, nicht bevor. "Die Ennahda hat keine Chance, ihre eigenen Regeln in die neue Verfassung hineinzudiktieren", sagt der tunesische Historiker Faycal Cherif. Dazu messe die tunesische Gesellschaft "bestimmten Prinzipien" wie der Gleichstellung von Männern und Frauen sowie der Trennung von Kirche und Staat eine zu hohe Bedeutung bei. Ähnlich sieht es Pierre Vermeren, Nordafrikaexperte in Paris. Mit bis zu 30 Prozent der Stimmen seien zudem auch liberale, linke und säkulare Parteien "eine starke Kraft" in der verfassunggebenden Versammlung.

mit Material von AFP

(RPO/AFP)
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