Analyse zu Großbritannien Showdown für den Brexit

London · Die Aussichten auf einen harten Brexit treibt viele Unternehmen aus Großbritannien. Dem Land droht der ökonomische Niedergang – doch das Kabinett ringt noch immer um die Marschrichtung des EU-Austritts.

LONDON Es wird ein langer Tag für die Minister: Vom Vormittag bis zehn Uhr abends sollen am heutigen Freitag die Beratungen dauern, die das britische Kabinett über den Brexit hält. Premierministerin Theresa May hat ihre Minister zu einer Klausurtagung auf ihren offiziellen Landsitz Chequers geladen. Dort, im stattlichen Herrenhaus in der Grafschaft Buckinghamshire, will sie ihr Kabinett auf eine gemeinsame Linie beim Brexit einschwören. Die bisher gespaltene Ministerriege muss zu einem vereinbarten Kurs finden, denn in der nächsten Woche, am 12. Juli, soll das lang erwartete Weißbuch zur Brexit-Strategie veröffentlicht werden.

Es wird auch Zeit. Vor mehr als zwei Jahren haben die Briten in einem Referendum für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt, aber immer noch weiß die EU nicht, wie sich Großbritannien die künftige Handelsbeziehung vorstellt. Bisher sind nur die Eckpunkte eines Austrittsabkommens vereinbart worden. Großbritannien versprach, seinen finanziellen Verpflichtungen – rund 45 Milliarden Euro – nachzukommen, und es wurde Einigung über die Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien und die der britischen Bürger auf dem Kontinent erzielt. Zudem versprach Großbritannien, dass es zu keiner harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland kommen soll. Doch wie das Königreich nach dem Austritt sein Wirtschaftsverhältnis mit der EU gestalten will, darüber herrscht Rätselraten.

Bisher hat die britische Regierung darüber nicht mit Brüssel verhandelt, sondern vor allem mit sich selbst. Mays Kabinett ist zerstritten über die künftige Marschrichtung – und welche Art von Wirtschaftsmodell man ansteuern will. Zwei Positionen werden vertreten: Die Singapur-Option, wie sie Außenminister Boris Johnson und Umweltminister Michael Gove anstreben und die auf eine klare Abgrenzung zum Europäischen Binnenmarkt setzt, würde auf eine Volkswirtschaft hinauslaufen, die mit niedrigen Steuern und minimalen Regularien punkten will. Das andere Modell, für das Schatzkanzler Philip Hammond streitet, plädiert dafür, dass sich Großbritannien möglichst eng an der EU orientiert und nur eine geringe regulatorische Divergenz zulässt.

In den vergangenen Wochen haben große Unternehmen Druck gemacht und Klärung gefordert. Der Flugzeugbauer Airbus warnte, dass er seinen Standort in Großbritannien aufgeben werde, sollte es zu keinem Deal mit der EU kommen. 14.000 direkte Arbeitsplätze und noch weit mehr in der Zulieferindustrie wären gefährdet. BMW schloss sich den Warnungen an und drohte, Investitionen im Königreich zurückzufahren. Und am Tag vor dem Chequers-Treffen meldete sich der größte britische Automobilkonzern Jaguar Land Rover zu Wort. Sollte Großbritannien einen harten Brexit ansteuern, also seinen Handel nach den Regeln der Welthandelsorganisation ausrichten, würde das das Unternehmen „jedes Jahr mehr als 1,36 Milliarden Euro Gewinn kosten“, sagte Geschäftsführer Ralf Speth. Das Überleben der Firma in Großbritannien wäre infrage gestellt und mindestens 40.000 Arbeitsplätze gefährdet. Jaguar Land Rover hat in den vergangenen fünf Jahren immerhin rund 56 Milliarden Euro im Königreich investiert. Für die kommenden fünf Jahre sind weitere 80 Milliarden Pfund geplant, allerdings unter der Voraussetzung, dass es zu keinem harten Brexit kommt. Schon jetzt ist das Investitionsklima in der Automobilbranche stark abgekühlt. In der ersten Jahreshälfte, so der Unternehmensverband SMMT, sind die einschlägigen Investitionen in Großbritannien um fast die Hälfte gesunken.

Die Kassandrarufe aus der Industrie sind bei May angekommen. Die Premierministerin will am Freitag auf Chequers „einen dritten Weg“ vorstellen, der einerseits den Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt vollzieht, andererseits aber einen möglichst reibungslosen Handel ermöglicht. Das neue Modell soll „facilitated customs arrangement“ (FCA) heißen, etwa: erleichtertes Zollabkommen. Danach behielte sich Großbritannien vor, eigene Zolltarife zu setzen und Freihandelsabkommen mit Drittländern abzuschließen. Für Waren jedoch, die aus Drittländern über das Königreich in die EU gehen, würde Großbritannien den Zoll erheben und an Brüssel abführen. Man habe, ließ Downing Street verlauten, ein technologisches System entwickelt, das den endgültigen Bestimmungsort von 96 Prozent der Waren ermitteln könne. Bei der Regulierung von Waren wolle man eine „volle regulatorische Angleichung“ anstreben, allerdings wolle sich das britische Parlament die Entscheidung vorbehalten, in welchen Sektoren es künftig ausscheren will.

Es ist völlig offen, ob die EU dieses Modell akzeptieren wird. Chef-Verhandler Michel Barnier hat in der Vergangenheit ähnliche Vorschläge als Rosinenpickerei abgelehnt. Theresa May versuchte im Vorfeld, diplomatischen Boden vorzubereiten. Am Montag traf sie den niederländischen Regierungschef Mark Rutte in Den Haag, am Donnerstag sprach sie mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. Bei beiden Besuchen dürfte sie dafür geworben haben, das in der nächsten Woche publizierte Weißbuch zum Zoll-Arrangement nicht geradewegs abzulehnen. May setzt darauf, dass nicht Barnier oder die Brüsseler Kommission, sondern die Regierungschefs das letzte Wort haben.

Doch vorher muss sie das FCA-Modell von ihrem Kabinett absegnen lassen. Die Chancen stehen nicht schlecht. Denn anders als im Brexit-Fachausschuss haben im Vollkabinett, das sich auf Chequers einfindet, die Befürworter eines EU-nahen Kurses die Mehrheit. „Steh auf und kämpfe“, feuerte am Donnerstag ein Leitartikel der „Times“ die Premierministerin an: Zum Wohle der Wirtschaft müsse sie ein pragmatisches Verhältnis mit Europa verfolgen.

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