Erfahrungsbericht aus Tel Aviv Als Deutscher mitten im Nahost-Konflikt

Rehovot · David Brocks aus Geldern arbeitet derzeit als Doktorand am Deutschen Krebsforschungszentrum und Weizmann Institut in Rehovot, etwa 15 Kilometer südlich von Tel Aviv. Dort wollte er promovieren. Doch jetzt befindet er sich mitten im Nahost-Konflikt zwischen Raketen-Angriffen und Sirenengeheul. In einem Gastbeitrag schildert er seine Eindrücke.

 Der Geldener David Brocks in Israel. Dass er hier Luftalarm und Raketen-Angriffe erleben würde, damit hatte der Doktorand bei seiner Anreise nicht gerechnet.

Der Geldener David Brocks in Israel. Dass er hier Luftalarm und Raketen-Angriffe erleben würde, damit hatte der Doktorand bei seiner Anreise nicht gerechnet.

Foto: David Brocks

Als ich die Sirenen zum ersten Mal höre, weiß ich, dass es keine Übung ist. In Sportklamotten sitze ich am frühen Abend alleine am Arbeitsrechner, als ich den nicht besonders lauten, aber dennoch bedrohlichen Alarm vernehme. Unsicher, ob er für das Weizmann Institut, meinem Arbeitsplatz südlich von Tel Aviv, oder für eine Nachbarstadt bestimmt ist, stehe ich langsam auf und laufe zum Ausgang des menschenleeren Raums. Auf dem Campus sehe ich entfernt nur einen Familienvater, der sich nicht rührt, dafür aber umso heftiger seine Familie anzuschreien scheint. Angesichts dieser Regungslosigkeit wiege ich mich schon in Sicherheit, ehe die gesamte Familie plötzlich anfängt zu rennen. In diesem Moment werde ich vom Außenstehenden, der die Ereignisse als externer Zuschauer durch die deutschen Medien verfolgt, zum Betroffenen.

Eine Minute Zeit, um Schutz zu finden

Auch ich renne jetzt in meinen Sportklamotten, ursprünglich hatte ich sie zum Basketballspielen angezogen. Den nächsten Schutzraum erreiche ich in weniger als einer halben Minute. Heute weiß ich, zu Beginn des Alarms hat man hier in Rehovot, so heißt die Stadt, etwa eine Minute Zeit um Schutz zu suchen, in südlicheren Gebieten teilweise nur wenige Sekunden. Als ich den Schutzraum betrete, wartet dort schon eine junge Frau. Sie lehnt sich routiniert gegen eine Schutzwand und tippt scheinbar genervt auf ihrem Smartphone herum. Als ich sie unerfahren frage, wie lange wir hier warten müssten, antwortet sie sehr gelassen und mit einem Lächeln: "offiziell zehn Minuten, aber ich denke in spätestens zwei Minuten wissen wir, ob es ernst war oder nicht!"

Ihre Ruhe steckt mich sofort an und mir wird wieder bewusst, wie unwahrscheinlich es doch ist, von einer Rakete getroffen zu werden. Ich lehne mich auch gegen eine Schutzwand und schaue auf die wissenschaftlichen Poster, die überall im Raum an den Wänden aufgehängt wurden. Ohne es wirklich zu verstehen, lese ich etwas über Algorithmen zur automatischen Mimikerkennung, um die Computer-Mensch-Interaktion zu optimieren. Dann plötzlich eine dumpfe, entfernte Explosion. War eine Rakete auf dem Campus eingeschlagen oder doch vom Iron Dome, dem israelischen Raketenabwehrschild, abgefangen worden? Die routiniertere Schutzraumbewohnerin reagiert überhaupt nicht, so dass ich anfange, an der Explosion zu zweifeln.

Nach wenigen Minuten verlässt die junge Frau, ich weiß nicht mal ihren Namen, den Schutzraum als Erste. Ich folge ihr und laufe dann zurück zu meinem Arbeitsplatz. Vor dem Gebäude wartet schon mein ebenfalls nicht-israelischer Arbeitskollege und fragt mich, ob ich auch gesehen hätte, wie die Rakete in der Luft abgeschossen wurde. Wir tauschen kurz unsere Erfahrungen aus und ich ärgere mich noch, in den Schutzraum gerannt zu sein, anstatt draußen das Spektakel beobachtet und eventuell fotografiert zu haben.

Chronologie zum Konflikt im Nahen Osten
Infos

Chronologie zum Konflikt im Nahen Osten

Infos
Foto: AFP/JACK GUEZ

Kollegen bewahren Ruhe

Wir machen uns auf den Weg zum Sportzentrum. Als wir Militärflugzeuge aufsteigen und vorbeifliegen hören, sagt mein Arbeitskollege fasziniert: "Da kommt die Antwort, das geht aber schnell!" "Ja, ein Teufelskreis", erwidere ich. Abends nach dem Basketball lese ich eine E-Mail von meinem Chef, an mich und den anderen Nicht-Israeli aus seinem Labor adressiert.

Gazastreifen: Bilder der Raketenangriffe durch Israel
16 Bilder

Weitere Tote bei Raketenangriffen auf Gazastreifen

16 Bilder

Er bietet uns an, ihn zu jeder Tageszeit anzurufen, sollten wir durch den Alarm und die Ereignisse hier in Panik verfallen. Er hoffe, dass es bald ende und er glaube, dass wir immer noch sicherer seien, als während einer normalen Autofahrt. Ich halte das für eine nette Geste und antworte ihm gelassen, dass ich mir des geringen Risikos bewusst sei und ich es eher als eine interessante Erfahrung ansähe, solange die Busse in Tel Aviv nicht hochgejagt würden und ich für alle Beteiligten wünschte, dass es so weit nicht käme. Spaßig versuche ich die Mail zu beenden, indem ich schreibe, wie erleichtert ich sei, dass die Hamas gestern keine Raketen auf Rehovot schoss, als ich mit einer Migräne im Bett lag. Ich bekomme keine Antwort.

Danach skype ich mit meiner Freundin und erzähle ihr von meinen Erlebnissen der letzten Tage. Von der unerträglichen Hitze am toten Meer, der wunderschönen Landschaft der Golanhöhen, der Feier in Tel Aviv, dem Holocaustdenkmal Yad Vashem und dem Bus auf dem Weg nach Jerusalem, der voll war mit uniformierten Soldaten und dem einen jungen israelischen Soldat, der mit Strandklamotten, Flip Flops und Maschinengewehr zugestiegen war. Nur eines erwähne ich mit keinem Wort, den Raketenalarm. Trotz des unheimlichen Drangs darüber zu sprechen, verheimliche ich es ihr.

Sie war sowieso schon sehr nervös wegen des anstehenden Besuchs in Israel und sie hatte auch schon erwägt, die Reise komplett abzusagen, sollte sich die Lage weiter verschlimmern. Somit erzähle ich, aus egoistischen Motiven und mit schlechtem Gewissen, weiter nur von den weniger dramatischen Erfahrungen. Zum Abschied wünscht sie mir eine erholsame Nacht, die hatte mir auch schon die Studentenhausverwaltung in ihrem Rundschreiben zu den Schutzmaßnahmen gewünscht.

Erstaunlicherweise schlafe ich in dieser Nacht wie ein Baby. Am nächsten Morgen kommt ein israelischer Arbeitskollege, der selbst in Tel Aviv lebt, zu mir und fragt nach den Ereignissen und wie mein "erstes Mal" denn so war. Ich schildere ihm den Moment als die Familie anfängt zu rennen. Er wirkt verständnisvoll und erklärt mir, dass der erste Alarm immer besonders bedrohlich sei. "Meinen ersten Alarm habe ich während des ersten Golfkriegs, als SCUDs in Richtung Tel Aviv geschossen wurden, erlebt. Damals war ich zwölf Jahre alt, das hatte mich schockiert, aber man gewöhnt sich auch daran sehr schnell. Heute gehen einige Menschen gar nicht mehr in die Schutzräume", höre ich ihn sagen. Beim Abschied entschuldigte er sich bei mir für dieses Erlebnis. "Es ist ja nicht deine Schuld", rufe ich ihm hinterher, "vermute ich", füge ich noch leise an.

Reise nach Israel trotz angespannter Lage

Ich bin einer von etwa einem Dutzend Doktoranden der relativ neuen German-Israeli-Helmholtz Graduiertenschule, jedoch der Einzige, der sich momentan in Israel befindet. Meine Doktorarbeit mache ich teilweise in Heidelberg am Deutschen Krebsforschungszentrum und am Weizmann Institut in Rehovot, etwas südlich von Tel Aviv. Natürlich wusste ich, dass ein Aufenthalt in Israel mit Risiken verbunden sein könnte, aber für mich haben die positiven Aspekte sehr schnell dominiert.

Meine Freundin und Familie waren natürlich nicht überschwänglich vor Freude, aber jeder hatte Verständnis. Meiner stets besorgten Großmutter erzählten wir etwas von Auslandssemestern in Spanien. Was für ein Sadist müsste man auch sein, einer alten Dame, die sich schon fast zu Tode um ihren Enkel sorgt, wenn er nur von Heidelberg nach Kevelaer mit dem Auto fährt, zu erzählen, dass er für ein Jahr nach Israel ginge. Später, bei einem kurzen Besuch in Deutschland, erzählte ich ihr dann die Wahrheit. Die Tatsache, dass ich ihr nichts von meinen Erlebnissen hätte erzählen können sowie die länger andauernde ruhige Lage, hatten mich dazu bewogen.

Das war etwa zwei Wochen, bevor die drei Talmudschüler in der Nähe von Hebron entführt wurden, seitdem habe ich meine Großmutter nicht mehr persönlich gesprochen. Ich erfuhr von der Entführung durch die deutschen Medien. Die Berichterstattung von manchen heimischen Zeitungen, aber vor allem Teile der Kommentare zu den Artikeln störten mich sehr. Es wurden die im Zuge der Verhaftungen und Durchsuchungen getötete Palästinenser gegen die drei entführten Israelis aufgewogen. Ich empfand dieses Zählen der Opfer auf beiden Seiten zur Entscheidungsfindung von Gut und Böse, schuldig und unschuldig als zu simplistisch. Auch war die Rede von den Siedlerkindern, die dort waren, um zu provozieren und ja wussten was für ein Risiko sie eingingen.

Ich fragte mich, ob ich durch meine Arbeit hier in Israel auch als Teil der Besatzungsmacht gesehen werden könnte und ob meine Fahrt im israelischen Auto, vom toten Meer aus durch das Westjordanland, als Provokation hätte verstanden werden können? Vielleicht würde man auch so von mir schreiben, wäre ich bei dieser Reise verletzt, entführt oder getötet worden? Jedenfalls war es mein subjektives Gefühl, dass viele Menschen mit einer starken schwarz-weiß Brille den Konflikt beobachteten, anstatt die vielen Grautöne und den unzweifelhaft sehr komplexen historischen Hintergrund zu beachten.

Entführung der Jugendlichen war kein Thema

Auf dem Weizmann Campus allerdings war die Entführung kein großes Gesprächsthema, obwohl oder vielleicht gerade weil der Großvater von einem der drei Jugendlichen hier als Professor für Mathematik lehrte. Aus Rücksichtnahme wurde sogar ein lange geplantes Familienfest des mathematischem Instituts verschoben. Am Morgen vor dem Fund der Leichen begegnete ich ihm kurz im Treppenhaus. Im Vorübergehen nickte ich ihm leicht mit einem kleinen Lächeln zu, als wollte ich sagen: "Es wird schon wieder!" Ich weiß heute leider nicht mehr, wie er reagierte und ich habe ihn seitdem auch nicht wieder gesehen. Die einzig nennenswerte Diskussion über die Entführung hatten wir bei einem Mittagessen, nachdem ich einige Fragen zu den Ereignissen stellte.

Die drei Israelis, alle selbst mit Militärdiensterfahrung, waren sich sofort einig, dass die Jugendlichen schon tot seien und wahrscheinlich direkt im Auto erschossen wurden. Ich fragte naiv nach, warum man die Jugendlichen denn entführen müsse, nur um sie dann direkt zu erschießen? Ihre Antwort war pragmatisch: "Jedes Jahr werden Siedler getötet, das interessiert niemanden, aber eine Entführung von Jugendlichen, das macht Schlagzeilen. Es ist die Ungewissheit und letztendlich die zerstörte Hoffnung, welche die Menschen bewegt." Sie sollten am Ende Recht behalten. Als sie die Leichen fanden, wurde das laufende WM-Spiel unterbrochen und man konnte die Aufgeregtheit der Bevölkerung und die besorgniserregende Rhetorik von Teilen der Regierung nicht leugnen.

In diesem Zusammenhang hat sich mir eine Szene, die sich vor und während einer Taxifahrt in Tel Aviv ereignete, sehr stark eingeprägt. Ich lief mit einem Freund vom Busbahnhof zum nächsten Taxi, an dem zwei Männer, einer davon der Taxifahrer, lautstark diskutierten. Wir waren etwas angetrunken und ich fragte nach einer Fahrt zu einer bestimmten Bar in der Stadt. Er willigte ein und diskutierte für einige Zeit weiter mit dem Mann. Die Stimmung schien immer weiter anzusteigen und nur nach mehrmaligen Nachfragen meinerseits beendeten die Männer vorläufig ihren Streit und der Fahrer stieg ein.

Er entschuldigte sich und erklärte, dass er seinen Freund zur Rede stellen musste. Ein Bekannter hatte gehört, dass dieser Freund, ein arabische Taxifahrer, gesagt habe, es sei richtig gewesen, was mit den drei Talmudschülern passiert war. "Ich kenne diesen Mann seit 20 Jahren und er ist einer meiner besten Freunde, aber wenn er das wirklich gesagt hat..!", drohte er sichtlich aufgebracht. "Wenn ein wahrscheinlich dummes Gerücht zwei Freunde so gegeneinander aufhetzen kann, wie soll es dann zwischen zwei sich hassenden Parteien jemals Frieden geben können?", dachte ich. Angetrunken und etwas altklug erzählte ich ihm von den drei Sieben des Sokratis, die darüber entscheiden, ob etwas über einen Freund erzählt werden sollte. Ihm schien es zu gefallen. Danach sprachen wir über Fußball und dass er hoffe, Deutschland würde die WM gewinnen, ich stimmte zu.

Jede Nacht Luftalarm

Die Woche nach der Taxifahrt saß ich mit meinen Arbeitskollegen wieder beim Essen. Wir sprachen das erste Mal ernsthaft über den jetzigen Konflikt und der Wahrscheinlichkeit einer dritten Intifada. Wir sprachen über den mutmaßlichen Rachemord an dem jungen Araber durch ultra-nationalistische Juden, deren potentielle Bestrafung und einer drohenden Bodenoffensive. Ein Kollege erinnerte sich offensichtlich enttäuscht: "Ich und meine ganze Generation wurden als Kinder von unseren Eltern in dem Glauben aufgezogen, dass in naher Zukunft Frieden zwischen Israelis und Palästinensern herrschen könnte!" Die anwesenden Israelis stimmten nickend zu. "Heute", so sagte er weiter, langsam und unaufgeregt, "erzählt das niemand mehr seinen Kindern." Sechs Stunden später ertönen die Sirenen - jede Nacht.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort