Afghanistan nach Machtübernahme Taliban 2.0 - Wölfe im Schafspelz

Analyse | Kabul · Die radikalen Islamisten, die in Afghanistan die Macht übernehmen, haben bis jetzt nur wenig von sich preisgegeben. Gibt es überhaupt eine einheitliche ideologische Linie oder regierungs­ähnliche Strukturen?

 Ein bewaffneter Taliban-Kämpfer steht an einem Kontrollpunkt im Viertel Wazir Akbar Khan in Kabul.

Ein bewaffneter Taliban-Kämpfer steht an einem Kontrollpunkt im Viertel Wazir Akbar Khan in Kabul.

Foto: dpa/Rahmat Gul

Es war ein triumphaler Empfang: Nach fast zwei Jahrzehnten kehrte Mullah Abdul Ghani Baradar, der Mitbegründer der Taliban und zweite Mann hinter Haibatullah Achundsada, in seine Heimat Afghanistan zurück. In Kandahar begrüßte die wartende Menge den als neuen Staatschef gehandelten Islamisten mit Jubelgesängen und Allahu-akbar-Rufen.

Baradar ist das bekannteste Gesicht der Taliban, die bislang nur wenig von sich preisgaben. Auch hinter Namen wie Siradschuddin Hakkani oder Mullah Jakub stehen viele Fragezeichen. Ist das plötzlich ins Rampenlicht gerückte Quartett die wirkliche Führung der siegreichen selbst ernannten Gotteskrieger? Gibt es überhaupt regierungsähnliche Strukturen, eine entsprechende Denkweise und eine einheitliche Linie? Die Machtstrukturen der Taliban – bekannt sind diverse Räte und Komitees bis hinunter in die Provinz und ein angebliches Schattenkabinett in Pakistan – erinnern an das abgeschottete Nordkorea: Viel wird vermutet, aber wenig ist sicher.

Zurzeit vermitteln die Taliban, dass eine deutlich gemäßigtere Herrschaft als von 1996 bis 2001 vorgesehen sei. Am Dienstag trat ihr geheimnisumwobener Sprecher Zabihullah Mujahid erstmals öffentlich auf; mehr als ein Jahrzehnt lang kannte man nur seine Stimme. Vor Reportern trug er ruhig seine Ansichten vor, bat sogar höflich um Fragen. Selbst anwesende Frauen schienen ihn nicht zu stören. „Wir haben allen verziehen, die gegen uns gekämpft haben. Wir wollen keine Konflikte mehr“, erklärte Mujahid. Auf seinem Platz hatte zuvor Regierungssprecher Dawa Khan Menapal gesessen, der Anfang August von den Taliban ermordet worden war.

Nun geht es angeblich um Frieden, Ordnung und Aufschwung. Auch die Rechte von Frauen gelte es zu respektieren, versicherte Mujahid. Sie sollten „studieren und arbeiten dürfen“, allerdings „in den Grenzen des islamischen Scharia-Rechts“. Misstrauen ist bei dieser Rhetorik ohnehin angebracht, sind die Taliban doch erneut durch brutalen Terror an die Macht gekommen, der vor allem die Zivilbevölkerung traf. Und zur politischen Taktik gehörte schon immer, genau das den westlichen Verhandlungspartnern zu versprechen, was die „Ungläubigen“ im Moment gerade hören wollten.

Der von deutschen Politikern geprägte Begriff der „gemäßigten Taliban“, mit denen man auf Augenhöhe verhandeln könne, ist ein Widerspruch in sich. Denn die Taliban gehören der Deobandi-Schule des Islams an. Für sie sind eine strenge Geschlechtertrennung, die strikte Auslegung von Strafe und Sühne und die militante Ablehnung anderer religiöser Strömungen innerhalb des Islams unverhandelbare Vorgaben. Auch jetzt herrscht Einigkeit, dass Afghanistan nach diesen Regeln regiert werden soll.

Während sich die Taliban-Führung staatsmännisch gibt, streifen ihre Kämpfer durch die Hauptstadt, fahren Karussell oder Autoscooter. Die Taliban von 2021 sind nicht mehr die Sieger von 1996; etliche junge Krieger haben zur ersten Schreckensherrschaft noch gar nicht gelebt. Doch selbst wenn die neue Führung tatsächlich Fortschritte bei Menschenrechten, Bildung und Infrastruktur zulassen will, könnte dies ihre erzkonservative Gefolgschaft unterlaufen. Das vor etwa zehn Jahren bekannt gewordene Taliban-Papier „Laheya“ („Regelbuch“) nannte zum Beispiel Lehrer als zu tötende Hauptfeinde. Nun sollen Mädchenschulen und berufstätige Frauen plötzlich erlaubt sein und der Ganzkörperschleier Burka nicht mehr Zwang? Dafür haben viele Islamisten nicht gekämpft. Ein weiterer Streitpunkt dürfte der Opiumanbau werden, den lokale Taliban-Chefs kontrollieren. Die neue Führung hat angekündigt, Af­ghanistan drogenfrei zu machen, braucht aber dringend Geld, um ihre Kämpfer und Verbündeten bei Laune zu halten.

Fast 20 Jahre haben die Taliban (aus dem Arabischen von „Schüler“ oder „Suchender“ abgeleitet) einen Aufstand gegen die Nato-Truppen und die vom Westen gestützte Regierung geführt. Entstanden waren sie aus den von den USA geförderten muslimischen Widerstandskämpfern gegen die kommunistische Regierung in Kabul und die sowjetischen Besatzer. Immer wieder führt die Spur nach Wasiristan ins Grenzgebiet zu Pakistan, einem mächtigen Förderer der Taliban. Dort gibt es mehr als 12.000 Koranschulen, in denen junge Leute für den „heiligen Krieg“ motiviert werden. Das erste Islamische Emirat in Kabul wurde nur von Pakistan, Saudi-Arabien und den arabischen Emiraten anerkannt, ein deutlicher Hinweis auf die Unterstützer im Hintergrund.

1996 waren die Taliban in traditionellen Stammesstrukturen gefangen. Doch die Islamisten von heute wollen anders gesehen werden als die finstere Truppe um Mullah Omar, die öffentlich Hinrichtungen veranstaltete und Frauen mit Nagellack die Finger abschnitt. Baradar, der acht Jahre in pakistanischer Haft verbrachte und 2018 auf Drängen des damaligen Präsidenten Donald Trump freigelassen wurde, um die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban zu führen, hat Erfahrung als Diplomat gesammelt. „Die Taliban-Führung versucht, ein Kabinett zu bilden, das für ihre vielen unterschiedlichen Fraktionen annehmbar ist, aber auch von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert wird“, glaubt der Afghanistan-Experte Mike Martin vom King’s College in London. Das könnte ein kleiner Hoffnungsschimmer für die Bevölkerung sein.

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