Präsident Ghani hat Land verlassen Taliban fordern bedingungslose Machtübergabe in Afghanistan

Kabul · Die Taliban stehen vor den Toren Kabuls. Sie erwarten offenbar einen friedlichen Machttransfer. Der Präsident Afghanistans soll das Land verlassen haben. Unterdessen hat die Bundeswehr mit der Evakuierung der letzten 100 Deutschen vor Ort begonnen.

 Ein Hubschrauber der USA von Typ Chinook über der US-Botschaft in Kabul. Die Vereinigten Staaten bringen ihr Botschaftspersonal bereits in Sicherheit.

Ein Hubschrauber der USA von Typ Chinook über der US-Botschaft in Kabul. Die Vereinigten Staaten bringen ihr Botschaftspersonal bereits in Sicherheit.

Foto: dpa/Rahmat Gul

Taliban-Kämpfer haben am Sonntag die afghanische Hauptstadt Kabul betreten, nachdem sie in nur einer Woche den größten Teil des Landes unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die radikalislamischen Taliban wollen nach eigenen Angaben innerhalb der "nächsten Tage" die Kontrolle über Kabul übernehmen. Die Miliz strebe eine "friedliche Übergabe" der Macht in der afghanischen Hauptstadt an, sagte der in Katar ansässige Taliban-Vertreter Suhail Schahin am Sonntag dem britischen Sender BBC. Die Taliban wollten eine "inklusive islamische Regierung" bilden, in der "alle Afghanen" vertreten seien.

Schahin versicherte, dass die Kämpfer der Taliban keine ausländischen Botschafter oder Staatsbürger angreifen würden: "Es wird kein Risiko für Diplomaten, Nichtregierungsorganisationen, für irgendjemanden geben." Die Ausländer könnten ihre Arbeit in Afghanistan fortsetzen. Der Taliban-Sprecher appellierte an die Ausländer, das Land nicht zu verlassen.

Drei afghanische Beamte sagten der Nachrichtenagentur AP unter der Bedingung der Anonymität, Taliban-Kämpfer hätten drei Randbezirke Kabuls betreten: Kalakan, Karabagh und Paghman. Es habe zunächst keine Kämpfe gegeben. Ein weiterer Beamter sagte der AP, Taliban-Unterhändler seien auf dem Weg zum Präsidentenpalast, um eine Machtübergabe vorzubereiten. Auf Regierungsseite nahmen der frühere Präsident Hamid Karsai und der Vorsitzende des Versöhnungsrats, Abdullah Abdullah, an den Gesprächen mit den Taliban teil, sagte der Gewährsmann, der die Atmosphäre dabei als „gespannt“ beschrieb. Die Regierung strebte die Bildung einer Übergangsregierung an, hieß es, war aber nach dem Verlust der wichtigsten Provinzhauptstädte und Gebiete in einer Position der Schwäche.

Afghanistans Präsident Aschraf Ghani hat Afghanistan am Nachmittag verlassen. „Er hat Afghanistan in einer schwierigen Zeit verlassen. Möge Gott ihn zur Rechenschaft ziehen“, sagte sein Rivale Abdullah Abdullah, Leiter des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, in einem Online-Video.

Wie der TV-Sender „Tolo News“ berichtete, soll der 72-Jährige die Regierungsgeschäfte an den amtierenden Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi übergeben haben. Berichten zufolge sollen Ghani und das Kernteam aus Kabul nach Tadschikistan geflogen sein. Einen offiziellen Rücktritt Ghanis gab es nicht.

In der Hauptstadt machten sich Auflösungserscheinungen breit. Behörden und Regierungsgebäude wurden von Beschäftigten fluchtartig verlassen. Der Flughafen von Kabul war für viele die letzte Chance, das Land zu verlassen, da die Taliban bis Sonntag alle Übergänge an den Landgrenzen unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Kabul war voller vor den Taliban geflüchteter Menschen, die in Parks und auf öffentlichen Plätzen kampierten und eine Rückkehr der harschen Auslegung des islamischen Rechts mit der fast vollständigen Eliminierung von Frauenrechten befürchteten.

Die USA waren angesichts der Taliban-Offensive nicht von ihrem Vorhaben abgegangen, bis Ende August den Abzug ihrer Truppen nach 20 Jahren Krieg abzuschließen. Am Sonntag evakuierten sie offensichtlich ihre Botschaft, Militärhubschrauber landeten und starteten. Offiziell bestätigt wurde das zunächst aber nicht. Auch andere Regierungen, die sich an der Nato-Truppe beteiligt hatten, kündigten Evakuierungen an, so auch Großbritannien, Italien und Tschechien.

Deutschland hat wegen des Vorrückens der Taliban auf Kabul seine Botschaft in der afghanischen Hauptstadt bereits geschlossen. Das teilte das Auswärtige Amt am Sonntag mit. Die Sicherheitslage habe sich drastisch verschlechtert, hieß es in einer Reisewarnung. Deutsche Staatsangehörige werden aufgefordert, Afghanistan zu verlassen. Nach Informationen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ wurde die Botschaft bereits evakuiert. Nach ersten Meldungen über das Eindringen von Taliban-Einheiten in die Stadt seien die etwa 20 Botschaftsangehörigen und die Bundespolizisten, die zum Schutz der diplomatischen Vertretung abgestellt sind, aus Sicherheitsgründen zum militärisch gesicherten Flughafen gebracht worden.

Die Bundesregierung will einem Medienbericht zufolge die verbliebenen Deutschen sofort ausfliegen. Noch am Sonntag solle ein Großtransporter vom Typ A400M der Bundeswehr sowie ein weiterer Airbus A310 nach Afghanistan starten, berichtete die "Bild"-Zeitung ohne nähere Angaben von Quellen. Eigentlich war eine Evakuierung erst für Montag geplant. In Kabul sollen noch rund 100 Deutsche sein, darunter 30 Botschaftsmitarbeiter und Bundespolizisten. Die Deutschen sowie afghanischen Ortskräfte sollten von der Luftwaffe zunächst nach Taschkent in Usbekistan ausgeflogen werden. Geschützt würden sie von rund 200 Fallschirmjäger, die in das Land flögen. "Bild" zufolge ist die Regierung mit dem Bundestag im Gespräch, der den Einsatz wegen der akuten Gefahr auch erst im Nachhinein genehmigen könnte.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), hat sich bestürzt über den Vormarsch der Taliban auf die afghanische Hauptstadt Kabul geäußert: „Mir geht es wie sehr vielen: Ich bin traurig und entsetzt. Ich denke dabei an die neuen Opfer des brutalen Fanatismus der Taliban, den zu erwartenden Bürgerkrieg und die Flüchtlinge, die eigentlich in ihrer Heimat bleiben wollten. Die Situation, wie sie jetzt entstanden ist, war vermeidbar", sagte Röttgen unserer Redaktion. "Was jetzt unmittelbar zu tun ist, ist klar: Die Bundesregierung muss jeden Menschen, gegenüber dem Deutschland eine Schutzverantwortung hat, sofort und sicher nach Deutschland bringen. Ein Bundestagsmandat hierfür kann notfalls nachgeholt werden, weil Gefahr im Verzug ist. Danach gilt es, die politischen Konsequenzen aus den gemachten Fehlern zu ziehen.“

Erstaunen herrschte auch am Wochenende noch darüber, dass die Taliban in gerade mal einer Woche gegen afghanische Sicherheitskräfte triumphierten, die über 20 Jahre mit Milliardenbeträgen von den USA und der Nato mit Waffen und militärischer Ausrüstung ausgestattet und ausgebildet wurden. Noch vor wenigen Tagen lautete die Einschätzung des US-Militärs, dass es einen Monat dauern werde, bis Kabul unter den Druck der Taliban kommt.

Die Taliban nahmen etliche Provinzhauptstädte kampflos ein, darunter Masar-i-Scharif im Norden am Samstag und Dschalalabad im Osten, wie örtliche Abgeordnete berichteten. In umkämpften Gebieten besiegten sie die Regierungstruppen oder diese ergriffen vor ihnen die Flucht.

In einer offiziellen Erklärung bekundeten die Taliban die Absicht, Kabul nicht „mit Gewalt“ erobern zu wollen. „Niemandes Leben, Eigentum und Würde wird verletzt und das Leben der Bürger Kabuls wird nicht in Gefahr sein“, erklärten sie. Sie verkündeten eine Amnestie für diejenigen, die für die Regierung oder ausländische Kräfte gearbeitet haben.

Die Einnahme der Provinz Logar direkt südlich von Kabul am Samstag und im Westen der Provinzhauptstadt Maidan Schahr am Sonntag brachte Taliban-Kämpfer bis auf wenige Kilometer an Kabul heran - die letzte afghanische Großstadt unter Regierungskontrolle. Am Sonntag waren nur noch eine Handvoll der 34 Provinzhauptstädte noch nicht in der Hand der Taliban.

Ghani wandte sich am Samstag mit einer Fernsehrede an die Nation, sprach von Konsultationen auf mehreren Ebenen und wirkte dennoch zunehmend isoliert und ohne militärische Option.

Die Taliban sagten in einer am Samstag veröffentlichten Erklärung: „Das Islamische Emirat versichert allen seinen Bürgern erneut, dass es, wie immer, ihr Leben schützen, Eigentum respektieren und eine friedvolle und sichere Umgebung für unsere geliebte Nation schaffen wird. In dieser Hinsicht sollte sich niemand um sein Leben fürchten.“

(th/dpa/AFP/Reuters)
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