Analyse Ach, Griechenland!
Athen · Sie suchten Achill und Aristoteles, sie fanden Souvlaki und Sirtaki: Hellas konnte nie halten, was die antikenbesoffenen Deutschen sich von ihm versprachen. Jetzt hilft nur noch eine platonische Beziehung.

Von Santorin bis nach Thessalien
Das waren noch Zeiten. Glorreiche Zeiten, wird mancher über die Euro-Krise erzürnte Grieche sagen, damals, als die Ahnen die deutsche Herrschaft abschüttelten. Das Volk zürnte dem König, den es 30 Jahre zuvor begeistert begrüßt hatte. Da war Griechenland erst seit drei Jahren wieder ein Staat gewesen, neu erstanden unter dem Schutz Großbritanniens, Frankreichs und Russlands nach Jahrhunderten türkischer Herrschaft. 17 Jahre alt war Otto, Sohn des glühenden Griechenfans Ludwig I., als er sein Reich betrat. Der junge König hatte allerdings keine glückliche Hand - Finanznot, Korruption und überbordender Einfluss der Ausländer bringen die Griechen in Rage. Klingt alles sehr aktuell, ist aber anderthalb Jahrhunderte her: Im Oktober 1862 verjagt das Volk den Wittelsbacher; ihm folgt ein Dänenprinz als König Georg.
Die Episode der "Bavarokratia" ist die erste, aber beileibe nicht die letzte ernüchternde Erfahrung, die die Deutschen in den vergangenen 200 Jahren in Hellas gemacht haben. Ihre antikenbesoffenen Träume sind immer wieder an der Realität zerschellt.
Das Drama war stets dasselbe: Die Deutschen suchten in Griechenland Achill und Aristoteles. Sie fanden Souvlaki und Sirtaki. Hellas konnte nie halten, was die Deutschen sich von ihm versprachen, weil die Erwartungen unrealistisch waren. Die Deutschen spürten "edler Einfalt und stiller Größe" der Antike nach, wie Johann Joachim Winckelmann (der nie in Griechenland war) sie gelehrt hatte. Mit Goethe (der nie in Griechenland war) riefen sie "Auch ich in Arkadien". Noch heute soll es welche geben, die am Isthmos von Korinth die "Kraniche des Ibykus" rezitieren - von Schiller (der nie in Griechenland war).
Traum und Realität stoßen schon zu Zeiten der Wittelsbacher hart aufeinander. Athen, das große Athen, ist damals ein elendes, malariageplagtes Kuhdorf. Die wenigen klassizistischen Bauten von Hand ausgesuchter Künstlerfreunde, mit denen Otto die Stadt beglückt, sind nicht mehr als dünne Tünche auf rauem Untergrund. Schon der Königspalast auf der Akropolis, den Karl Friedrich Schinkel entwarf, wird gottlob nie ausgeführt. Stattdessen explodiert die Stadt förmlich: Griechenlands Kapitale ist heute eine der verbautesten, architektonisch anarchischsten Metropolen Europas.
Schwärmerei war in Griechenland stets ein schlechter Ratgeber. Und trotzdem liebten die Deutschen dieses Land. Sie haben dafür sogar ein eigenes Wort: Philhellenismus. Die Zuneigung war freilich meist von der erdrückenden Art, ganz anders als im Fall Italiens - vielleicht auch, weil Griechenland im Gegensatz zum stets aufmüpfigen Italien erst vom angeblichen türkischen Joch befreit werden musste und lange gefühlt blieb, was es zum Zeitpunkt seiner Entstehung auch formal war: ein Schützling des Westens.
Hinzu kommt eine Art kultureller Imperialismus, denn für einen echten Philhellenen laufen auch im modernen Griechenland nur kleine Agamemnons herum. Eine Gesellschaft, die in ihrer Alltagskultur vom Essen über die Musik bis zur Sprache oft mehr türkisch als antik geprägt war (und ist), wird viel zu selten wahrgenommen. Wer das Land der Griechen mit der Seele sucht, wie ihm Goethe geflüstert hat, schlägt umso härter in der Realität auf.
Das alles ist natürlich nicht Schuld der Griechen, die sich seit bald 200 Jahren in ihrem herrlichen, aber weithin kargen Land inmitten großartiger kultureller Überreste mühen, einen Staat zu etablieren, der Anschluss an den Rest Europas zu halten vermag. Im Gegenteil: Die Griechen hießen trotz der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg die Deutschen willkommen, als die Anfang der 50er wieder vor der Tür standen, dieses Mal mit dem Baedeker unterm Arm.
Und dann kam der Euro. Die Wut des deutschen Stammtischs ("Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen!", johlte 2010 die "Bild"-Zeitung) dürfte vor allem aus der Erfahrung herrühren, dass sich die EU in Sachen Euro-Beitritt von griechischen Statistikern übers Ohr hauen ließ wie von windigen levantinischen Straßenhändlern. Dass man auch in Deutschland die Risiken eines griechischen Euro-Beitritts lange nicht sehen wollte - geschenkt. Der Ton wurde schnell sehr rabiat. "Ihr griecht nix von uns!" (wiederum "Bild"), ruft Volkes Stimme. Ihrerseits nahmen griechische Demonstranten die Kanzlerin mit Hitlerbärtchen ins Programm, die seither bei Protesten in ganz Europa freudig gezeigt wird.
Was soll da noch helfen? Vielleicht Erotik. Philosophisch veredelt, natürlich. Denn der Eros ist bei Platon die Vereinigung der Gegensätze, das Streben nach Vollendung, das Fortschreiten von sinnlicher Anziehung zu absoluter, göttlicher Erkenntnis. "Verständnis" wäre dafür viel zu profan, "Einfühlungsvermögen" auch, aber Politik und Psychologie sind nun einmal profane Geschäfte. "Weisheit" wiederum (auch für den Weg dorthin steht der Eros) ist ein großes Wort, aber es ist ja auch eine große Krise. Und die Liebe zur Weisheit ist bei Platon der Schlüssel zur Ewigkeit. Diese Stufe ist zwar den Philosophen vorbehalten - aber die waren bei Platon schließlich die Staatslenker.
Morgen wählen die Griechen ihr Parlament - eine der wichtigsten Wahlen 2015. Und ein guter Anlass, mit Platon für mehr Maß, mehr Verstand im deutsch-griechischen Verhältnis zu werben. Dass das auch ein Plädoyer für Realismus ist, Platon aber Idealist war, das mag man dialektisch nennen. Aber auch den Begriff hat Platon erfunden.
Man muss es mit dem Eros ja nicht gleich so weit treiben wie Otto von Wittelsbach. Der hatte nach seiner Vertreibung aus Griechenland noch knapp fünf Jahre zu leben, und zwar in Bamberg, mit einem Exilanten-Hofstaat in griechischer Tracht und Griechisch-Pflicht zwischen sechs und acht Uhr abends. Ottos letzte Worte sollen gewesen sein: "Griechenland, mein Griechenland, mein liebes Griechenland!"
Das waren noch Zeiten.