200. Todestag Held oder Rassist – Frankreich streitet über Napoleon

Paris · Auch 200 Jahre nach seinem Tod spaltet der Feldherr noch immer die französische Nation. Deutschland brachten seine Reformen einen Modernisierungsschub.

 Eine Napoleon-Briefmarke zum 200. Todestag.

Eine Napoleon-Briefmarke zum 200. Todestag.

Foto: AFP/PHILIPPE LOPEZ

Die Anhänger Napoleons sind zur Schlacht bereit. „Wir werden uns verteidigen“, lässt Thierry Lentz seinen Gegnern wissen. „Wir werden uns dieses Jubiläum nicht stehlen lassen.“ Es sei für lange Zeit die letzte Gelegenheit, an den herausragendsten Charakter der französischen Geschichte zu erinnern, ereifert sich der französische Historiker.

In den Kampf zieht der Autor mit seinem aktuellen Buch „Pour Napoléon“. Es ist das vorerst letzte von vielen Dutzend Werken, die Thierry Lentz bereits über den französischen Herrscher geschrieben hat. Doch dieses Mal spricht aus den 200 Seiten der Furor über jene „geschichtsvergessenen Kritiker“, die den 200. Todestag Napoleons am 5. Mai 2021 am liebsten vergessen machen würden. Denn in deren Augen war Napoleon kein Held, sondern ein blutrünstiger Militarist, Sklaventreiber, rücksichtsloser Rassist, brutaler Kolonialist, ein Macho, der im November 1799 zum Totengräber der französischen Republik wurde.

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Gegner und Anhänger Napoleons haben sich mit großem Grimm hinter ihren Verteidigungslinien verschanzt. Das macht es fast unmöglich, einen möglichst objektiven Blick auf das Leben und die Leistung des Feldherrn und selbstgekrönten Kaisers zu werfen. Arthur Chevallier, Kurator einer großen Napoleon-Ausstellung in der Grande Halle de la Villette in Paris, bereiten diese nach seinen Worten „hysterischen Debatten“ großes Kopfzerbrechen. Wenn selbst die wissenschaftlichen Diskussionen vor allem von Ideologien gelenkt werden, sei das der Erkenntnis immer abträglich, sagt der Historiker. „Es geht nicht darum, Napoleon blind zu bewundern, sondern objektiv über seine sechzehnjährige Regierungszeit zu berichten“, unterstreicht Arthur Chevallier. „Die Geschichte Frankreichs in jener Zeit ist weder tugendhaft noch schrecklich, sie ist komplex.“

Unbestritten unter Historikern ist der Einfluss des damals scheinbar allmächtigen Franzosen auf ganz Europa. In nur zwölf Jahren krempelt er den ganzen Kontinent um. Rom und Amsterdam werden französische Städte ebenso wie Köln oder Hamburg. „Am Anfang war Napoleon", lautet der immer wieder zitierte erste Satz von Thomas Nipperdeys Standardwerk „Deutsche Geschichte“ des 19. Jahrhunderts.

Tatsächlich wurde Deutschland von dem Korsen brutal in die Moderne gestoßen. Seine territorialen Neuordnungen ließen 1806 das 900-jährige Heilige Römische Reich in sich zusammenstürzen. Er beendete die weltliche Herrschaft der Kirchenfürsten und der Kleinfürstentümer. Bis dato herrschte ein unübersichtlicher Flickenteppich. Rund 300 kleinere und mittlere Staaten und Reichsstädte verteidigten auf deutschem Gebiet eifersüchtig ihre Pfründe. Sie wurden kurzerhand zu größeren Territorien zusammengefasst. Am Ende der Neuordnung standen weniger als 40 Gebiete.

Großer Verlierer der Reform war die Kirche. Im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurde festgesetzt, dass die weltlichen Fürsten für ihre linksrheinischen Gebietsverluste an Frankreich abgefunden werden sollten. Dies geschah durch Säkularisation kirchlicher sowie durch Mediatisierung kleinerer weltlicher Herrschaften rechts des Rheins. Insgesamt wurden zwei Kurfürstentümer, neun Reichsbistümer und 44 Reichsabteien aufgelöst – Entschädigungszahlungen erhalten die Kirchen allerdings noch heute.

Doch es sollte nicht bei der territorialen Neuordnung bleiben, die den nun größeren Staaten links des Rheins ganz neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnete. Einen entscheidenden Modernisierungsschub brachte die Einführung des französischen Rechts. In seinem Zivilgesetzbuch „Code Civil“ hatte Napoleon nach dem Ergreifen der Macht einst einige Grundideen der Französischen Revolution übernommen, etwa die Gleichheit vor dem Gesetz oder die Trennung von Staat und Kirche. Diese Bestimmungen galten nach dem Einmarsch der französischen Truppen natürlich auch in den besetzten Gebieten – und das bis weit nach dem einsamen Tod Napoleons am 5. Mai 1821 in der Verbannung auf Sankt Helena. Diese rechtlichen Reformen bilden sogar eine der Grundlagen des am 1. Januar 1900 für ganz Deutschland eingeführten Bürgerlichen Gesetzbuches.

Einen sehr direkten Einfluss auf das tägliche Leben der Menschen hatte etwa die Einführung der Zivilehe, die 1798 in den französisch besetzten rheinischen Provinzen eingeführt wurde. Eine rein kirchliche Trauung war dort nicht mehr gültig. Nach und nach ging diese Regelung auf alle deutschen Länder über, fünf Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches wird 1876 die Zivilehe zum einheitlichen Gesetz. In Deutschland kann seither ausschließlich ein Standesbeamter eine gültige Ehe schließen.

Auch die Hausnummern gehen zumindest im Westen und Süden Deutschlands auf den Einfluss Napoleons zurück. Über Jahrhunderte trugen die Häuser in Deutschland zur Orientierung häufig markante Bezeichnungen oder die Namen ihrer Besitzer. Napoleons Militär trägt die in Paris bereits verbreiteten Hausnummern nach Deutschland. Damit sollte die Unterbringung der eigenen Soldaten vereinfacht werden.

Die Reformen Napoleons strahlen in jener Zeit des Umbruchs aber auch auf die anderen großen Staaten in Europa ab. So beobachteten die Machthaber in Preußen mit großem Interesse den Innovationsschub etwa durch den Umbau der Rechtsordnung und ließen sich durch das französische Vorbild inspirieren. Das geschah allerdings nicht aus Liebe zu ihrem Volk, dem sie mehr Freiheiten geben wollten, sondern aus purem Machtkalkül. Die preußischen Reformer erkannten nach der Niederlage gegen Napoleon, dass ihr Land nur durch eine radikale Modernisierung wirtschaftlich und militärisch wieder auf die Füße kommen und gegen die französische Macht bestehen konnte.

Die Verdienste Napoleons sind also unverkennbar. Er ist aber auch der Mann, der als rücksichtsloser Eroberer ein Höllenfeuer in Europa entfachte und damit Verwüstung, hundertausendfachen Tod und Leid über den Kontinent brachte.

 Beide Lager – die Anhänger und die Verächter dieses so vielschichtigen Mannes – starren nun gebannt auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Der machte aus seiner Verehrung für die Leistung Napoleons bisher kein Geheimnis. Im Jahr 2017 führte er sogar den damaligen US-Präsidenten Donald Trump zum Grab des Feldherrn im prächtigen Pariser Invalidendom. Sein Besucher sollte einen bleibenden Eindruck vom Glanz und der Größe Frankreichs bekommen.

Doch im kommenden Jahr will Macron erneut zum Präsidenten des Landes gewählt werden, da muss er seine Worte angesichts dieser polarisierenden Persönlichkeit auf die Goldwaage legen, um niemanden vor den Kopf zu schlagen. Sonst könnte es passieren, dass Napoleon 200 Jahre nach seinem Tod noch einmal über die Macht im Land entscheidet.

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