Analyse Aufwachsen mit alten Eltern

Düsseldorf · Immer mehr Menschen werden spät Eltern. Das hat mit längeren Bildungswegen und neuen medizinischen Möglichkeiten zu tun. Die Folgen für die Eltern werden seit Längerem untersucht - doch was ist mit den Kindern?

Analyse: Aufwachsen mit alten Eltern
Foto: C. Schnettler

Sie sind die Schlüsselfiguren einer Gesellschaft der hochgeschraubten Erwartungen: späte Eltern. Sie haben lange Bildungswege hinter sich, dann Praktika, prekäre Stellen, Zeitverträge, endlich die Festanstellung, Hausbau, Altersvorsorge - und ein Kind? Sie hören von allen Seiten, was verantwortungsbewusste Eltern leisten müssen, welche Normen Kinder heute erfüllen sollten, um im Konkurrenzkampf zu bestehen, und wollen zugleich erfüllte Partnerschaften leben. Kein Wunder also, dass immer mehr Menschen das Experiment Familiengründung ans Ende ihrer durchgeplanten Karrierebiografien stellen wollen. Wer sich überhaupt noch für Kinder entscheidet, bekommt seinen Nachwuchs heute spät.

Analyse: Aufwachsen mit alten Eltern
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Längst registrieren das die Statistiker: Waren Mütter 1970 noch im Schnitt 24 Jahre alt, sind sie heute 29, Akademikerinnen sogar 33. Auch der Anteil der über 40-jährigen Mütter wächst. 1991 lag er für Erstgebärende noch bei 0,8 Prozent, heute sind es mehr als vier Prozent. Und fünf Prozent aller Neugeborenen haben mittlerweile einen Vater über 50.

Die Wissenschaft beschäftigt sich seit längerem mit diesem Thema, untersucht, was die späte Belastung für Väter, Mütter, Arbeitsmarkt bedeutet, welchen Einfluss die späte Zeugung auf Intelligenzquotient und Gesundheitsrisiken des potenziellen Nachwuchses hat und mit welchen Fehlgeburtsquoten zu rechnen ist. Dazu Studien über die neuen Großeltern, die auch immer länger jung bleiben müssen, um die Enkelchen noch zu erleben.

Und die Kinder der späten Eltern? Die tatsächlich Betroffenen? Ihre Perspektive interessiert bisher kaum. Dabei sind sie es, die unfreiwillig in das Spät-Familienmodell gezwungen werden und es leben müssen - mit vielfältigen Konsequenzen: Späte Kinder erleben Eltern, die sich beim Fußball oder in der Kletterhalle nicht mehr verausgaben können. Viele wachsen behütet, aber einsam auf, weil die Geschwister schon erwachsen sind, die Großeltern schon zu alt. Sie erleben die Werte und den Lebenswandel der eigenen Eltern als überholt, werden Zeuge, wie sie im sozialen Umfeld für die Großeltern gehalten werden, sind beschämt oder neidisch, wenn sie Freunde mit jüngeren, agileren Eltern erleben. Außerdem müssen späte Kinder sich vor der Zeit auf die Pflege der Eltern einstellen oder sind gar mit dem Tod konfrontiert.

Natürlich haben ältere Eltern auch Vorteile: Sie sind in der Regel gelassener, zufriedener, gesellschaftlich etabliert und wirtschaftlich abgesichert. Sie verfügen über eine Menge Lebenserfahrung und haben sich die Familiengründung reiflich überlegt. Kinder älterer Eltern können also mit größeren Freiheiten, mehr Großzügigkeit rechnen. Viele Psychologen halten ältere für die besseren Eltern.

Diese Vorteile werfen Spätfamiliengründer denn auch in die Waagschale, wenn sie über sich selbst Auskunft geben. Frauen wie Susanne Fischer, die in ihrem erhellenden Buch "Ansichten einer späten Mutter" beschrieben hat, warum sie erst mit 43 ihr erstes Kind bekam, welche Vorteile das hat. Und wie schade es ist, wenn Frauen jenseits der 40 ihrem Kinderwunsch nur wegen gesellschaftlicher Vorbehalte nicht nachgeben. Allerdings macht doch stutzig, wie wenig in solchen Büchern vom Empfinden der Kinder die Rede ist. Zum Teil mag das daran liegen, dass sie noch zu jung sind.

Der Trend zur späten Elternschaft ist ja selbst noch vergleichsweise jung. Andererseits hat es späte Kinder in geringerer Zahl immer schon gegeben, und sie haben spezielle Erfahrungen gemacht, weil es eben nicht dasselbe ist, ob die eigene Mutter 25 ist oder 45. Doch hat die Öffentlichkeit das bisher kaum interessiert.

Karin Ackermann-Stoletzky ist so ein spätes Kind. Als sie zur Welt kam, war ihre Mutter 49, ihre älteste Schwester schon 30. "Ich hatte sehr gelassene Eltern, die mich mit viel Vertrauen erzogen haben", sagt Ackermann-Stoletzky (56), die als selbstständige Supervisorin in Solingen arbeitet. Allerdings erinnert sie sich an Kinderträume, in denen sie mit ihren Eltern über eine Brücke lief, die Brücke stürzte ein, und sie konnte die Eltern nicht halten. "Verlustängste habe ich sicher gehabt", sagt Ackermann-Stoletzky, "aber ich hatte eine gute, behütete Kindheit, ich habe gemerkt, dass meine Eltern alt waren, aber ich habe das nicht bewertet."

Der Journalist Eric Breitinger, selbst aufgewachsen mit älteren Eltern, hat für sein Buch "Späte Kinder" mit zwei Dutzend Betroffenen gesprochen. Die meisten äußern sich loyal über ihre Eltern, haben das Leben genommen, wie es ist. Doch auf Nachfrage reden sie eben doch über Scham, manchmal auch über Wut und Trauer. Sie erzählen, wie anstrengend es ist, Eltern zu pflegen, während sie gerade studieren oder die eigene Familie gründen, und wie frustrierend es ist, dabei wenig Unterstützung von den viel älteren Geschwistern zu bekommen. Viele späte Kinder haben schon als Jugendliche ein Elternteil verloren und sind mit dem Gefühl aufgewachsen, traditioneller, altmodischer - anders zu sein. Das muss nicht schlechter bedeuten, doch die Erzählungen der Kinder unterscheiden sich doch deutlich von dem, was ältere Eltern über ihre späte Entscheidung für Kinder sagen. Denn die betonen in der Regel, wie der späte Nachwuchs ihr Leben verjüngt und belebt, wie viele Impulse und Anregungen sie ihm verdanken.

Es gibt bei Familienfragen kein Richtig und Falsch, nur unendlich viele Einzelfälle. Auch das lehrt Breitingers Buch. "Am Ende zählt doch, wie beziehungsfähig Eltern sind", sagt Karin Ackermann-Stoletzky. Allerdings ist späte Elternschaft nicht einfach nur Ergebnis gewandelter Lebensumstände, der Trend hat auch einen Preis. Späte Kinder können davon berichten.

(dok)
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