Wirtschaft Auferstanden aus Ruinen

Deutschlands Wirtschaft steht 25 Jahre nach der Einheit und nach zwei Billionen Euro an Transfers in die neuen Länder besser da als zuvor. Auch der Osten kam voran, doch die Lücke zum Westen bleibt.

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) konnte mit den Beamten seines Ressorts ausnahmsweise einmal zufrieden sein. Denn die Staatsdiener hatten im Bericht zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit akribisch zusammengetragen, dass in den neuen Ländern der "Aufbau insgesamt gelungen" sei: moderne Autobahnen, aufwendig renovierte Innenstädte und Wohnungen, attraktive Universitäten, neue Forschungszentren, saubere Flüsse und Seen. In manchen Teilen liest sich der neueste Einheitsbericht wie ein modernes Märchen.

Tatsächlich hat Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 einen gewaltigen Sprung nach vorne gemacht. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der fünf neuen Länder, gemessen als Güterausstoß je Erwerbstätigen, hat sich bis 2014 mehr als verdoppelt, das verfügbare Einkommen ist sogar um das Zweieinhalbfache gestiegen. Die Versorgung mit Autos, modernen Haushaltsgeräten, Smartphones oder Flachbildschirmen ist genauso hoch wie im Westen. Die Regale der Supermärkte im Osten wie im Westen sind zum Bersten gefüllt, an der türkischen Ägaisküste wird neben Schwäbisch auch Sächsisch gesprochen.

Doch sosehr die Bewohner der früheren DDR von der Marktwirtschaft, der einheitlichen europäischen Währung und den neuen Freiheiten profitieren: Im Vergleich zu den alten Bundesländern liegt Ostdeutschland immer noch deutlich zurück. Der Wirtschaftsforscher Joachim Ragnitz von der Dresdner Niederlassung des Ifo-Instituts beziffert den Rückstand der neuen Länder auf 30 Jahre. Beim Pro-Kopf-Einkommen hat der Osten gerade erst den westlichen Stand zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung übertroffen. Das entspricht heute nur 67 Prozent des westlichen Durchschnitts. Weil die Erwerbsquote niedriger ist, schneiden die neuen Länder beim Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen mit 76 Prozent etwas besser ab. Aber es klafft noch immer eine Lücke von 25 Prozent. In ökonomischer Hinsicht, so Ifo-Forscher Ragnitz, gehe nach wie vor "ein tiefer Riss durch Deutschland". Eine Angleichung der Lebensverhältnisse, wie sie sich Altkanzler Helmut Kohl mit seinen berühmten Worten von den "blühenden Landschaften" vorstellte, ist noch weit entfernt. Gemessen daran, meint Ragnitz, müsse die Einheit "als unvollendet gelten".

Selbst in der Politik ist dieser Befund inzwischen angekommen. "Der Osten holt einfach nicht auf", beklagt die SPD-Politikerin Iris Gleicke, die Ostbeauftragte der Bundesregierung im Bundeswirtschaftsministerium. Zugleich betont sie, dass der Transformationsprozess insgesamt positiv verlaufen sei.

Das ist kein Widerspruch. Denn die neuen Länder hatten das Pech, dass sie trotz des gewaltigen Sprungs auf eine westdeutsche Wirtschaft trafen, die sich gerade zum führenden Ausrüster einer wachsenden Weltwirtschaft wandelte. Doch diese Funktion kam vor allem den wirtschaftsstarken Regionen um München, Hamburg, Frankfurt, Stuttgart und Düsseldorf zugute. Der Osten verblieb - durchaus erfolgreich - in der Rolle einer verlängerten Werkbank.

Ifo-Forscher Ragnitz nennt die Gründe für den Rückstand der neuen Länder: Es fehlen die Unternehmenszentralen mit ihren hochqualifizierten Angestellten und den spezialisierten Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Zugleich könne die kleinteilige ostdeutsche Industrie nicht die Größenvorteile der ständig erneuerten, hocheffizienten Westfabriken wettmachen. Auch die Exportintensität der ostdeutschen Wirtschaft liege deutlich unter der des Westens. Bis jetzt ist es außer in einigen Vorzeigestädten wie Jena oder Dresden auch nicht gelungen, universitäre Forschungseinrichtungen mit Unternehmen zu verzahnen.

Neben den Vorteilen, die Deutschland aus seiner internationalen Vernetzung zieht, haben die Arbeitsmarktreformen des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder (SPD) die Arbeitslosigkeit stark sinken lassen. In den alten Ländern liegt sie jetzt unter sechs Prozent, in Ostdeutschland ist die Quote der Menschen ohne Arbeit auf neun Prozent gefallen. Davon haben also beide Teile profitiert. Allerdings ziehen die wirtschaftsstarken Regionen deutlich mehr Arbeitskräfte - einfache wie hochqualifizierte Tätigkeiten.

Im Osten haben sich dagegen manche Räume regelrecht entleert. So hat Sachsen-Anhalt jeden fünften Einwohner verloren, selbst das Vorzeigeland Sachsen immerhin jeden zehnten. Aktuelle Bevölkerungsprognosen gehen von weiteren Verlusten aus - bis zu 20 Prozent in bestimmten Landkreisen in den kommenden 15 Jahren.

Die wirtschaftliche Bilanz der Einheit bleibt gemischt. Es hat in den neuen Bundesländern bestenfalls ein kleines Wirtschaftswunder gegeben, die Angleichung lässt noch lange auf sich warten. Die alte Bundesrepublik hat die gewaltigen Einheitslasten hingegen gut verkraftet. Rund zwei Billionen Euro flossen seit 1991 als Transfers von West nach Ost - Aufbauhilfe, Ausgleich für ärmere Länder, Renten und andere Sozialleistungen. Noch immer machen diese Mittel Jahr für Jahr mit 54 Milliarden Euro fast ein Fünftel der ostdeutschen Wirtschaftsleistung aus. Für die neuen Länder hat das auch etwas Gutes: Sie schaffen zwar nicht die Wirtschaftskraft des Westens, nähern sich aber immerhin beim Lebensstandard an.

(kes)
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