Gini-Koeffizient hilft bei Spurensuche Armes Deutschland, reiches Deutschland

Düsseldorf · Im Wahlkampf stellten die linken Parteien das Thema Soziale Ungleichheit in den Mittelpunkt. Doch driftet die deutsche Gesellschaft tatsächlich auseinander? Stirbt die Mittelschicht aus? Eine ökonomische Spurensuche.

 Armut in Deutschland: Eine Erfindung des linken Jet-Sets?

Armut in Deutschland: Eine Erfindung des linken Jet-Sets?

Foto: dpa/Wolfgang Moucha

Mitten in der stolzen Hansestadt Hamburg, knapp 200 Meter von der Binnenalster und vom Jungfernstieg mit seinen Luxusboutiquen entfernt, liegt Deutschlands ältestes Obdachlosenasyl, das "Pik As". In der Einrichtung mit ihren 210 Betten finden Männer, Frauen und auch ihre Hunde Nacht für Nacht ein Dach über dem Kopf. Im Oktober feierte das Haus sein 100-jähriges Bestehen. Schauspielerin Nina Petri übernahm die Schirmherrschaft. Die Lage der Herberge zeige, "wie ungleich Wohlstand und Armut verteilt sind", sagte Petri und warb für ein größeres Engagement.

Land der Niedriglöhner?

Der fraglos wichtige Appell reiht sich ein in die Warnungen von Gewerkschaften und linken Parteien. Wer sie hört, könnte meinen, Deutschland sei ein Land der Hartz-IV-Empfänger, Niedriglöhner, Leiharbeiter und Werkvertragsnehmer. Ein Land, in dem die Mittelschicht verschwindet und für viele die Rente nicht zum Leben reicht, während eine kleine Gruppe in Saus und Braus lebt. Doch haben die Mahner recht, oder handelt es sich bei der neuen Armut um "eine Erfindung des sozialistischen Jet-sets", wie Helmut Kohl in einem Interview mit dem "Stern" 1984 mutmaßte?

Dafür ist zunächst ein kleines Gedankenexperiment hilfreich: Man stelle sich vor, alle Deutschen würden sich sortiert nach der Höhe ihrer Nettoeinkommen — zuzüglich aller sonstigen Einnahmen wie Mieteinkünfte oder Aktiengewinne — in einer Reihe aufstellen. Am linken Ende steht der ärmste, am rechten der reichste Deutsche. Nun tritt derjenige vor, der genau in der Mitte der Schlange steht. Er hat das sogenannte mittlere Einkommen. Dieses liegt für einen westdeutschen Singlehaushalt bei 1655 Euro. Mit dem mittleren Einkommen lässt sich bestimmen, wer in Deutschland als arm gilt.

Rechenspiele

Dabei werden in der Wissenschaft zwei verschiedene Grenzen unterschieden: Wer netto weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens verdient, liegt unterhalb der relativen Armutsschwelle. Das sind derzeit 9,4 Prozent der Bevölkerung. Wer zwischen 50 und 60 Prozent des mittleren Einkommens hat, gilt als armutsgefährdet. Rechnet man beide Gruppen zusammen, machen sie 16 Prozent der Bevölkerung aus.

"Bei den armutsgefährdeten Menschen reicht oft schon ein unerwartetes Ereignis aus, und sie rutschen unter die 50-Prozent-Schwelle", erklärt Markus Gangl, Soziologie-Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt. "Der Anteil des Personenkreises der Armutsgefährdeten ist seit Mitte der 90er Jahre um etwa vier Prozentpunkte deutlich gestiegen. Die Zahl derer, die als arm gelten, ist dagegen mit etwa 1,5 Prozent nur leicht gestiegen."

Das Bild zweier Extreme

Und die gut Betuchten? Nach Angaben des Soziologen ist je nach Definition reich, wer das Zwei- oder sogar das Dreifache des mittleren Einkommens verdient. "7,7 Prozent haben monatlich mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens, 1,8 Prozent das Dreifache", sagt Gangl.

Doch die Armuts- und Reichtumsquote liefert nur ein Bild zweier Extreme. Um Aussagen über die Gerechtigkeit in der gesamten Gesellschaft zu treffen, gibt es den Gini-Koeffizient. Benannt ist er nach Corrado Gini, einem italienischen Statistiker, der eine unrühmliche Rolle als Vordenker des Faschismus spielte. Bekannter ist er jedoch für seinen Aufsatz "Variabilität und Wandelbarkeit", in dem er zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erstmals ein Maß für die Ungleichheit von Einkommen entwickelte.

Vereinfacht ausgedrückt geht der Statistiker von zwei Extremsituationen aus: Auf der einen Seite eine Gesellschaft, in der eine einzelne Person das gesamte Vermögen besitzt und alle übrigen völlig mittellos sind. In diesem Extremfall, der wohl ungerechtesten vorstellbaren Situation, hat der Gini-Koeffizient einen Wert von 100. In der zweiten Extremsituation besitzen alle Mitglieder einer Gesellschaft exakt gleich viel. Gerechter geht es nicht. Der Gini-Koeffizient hat dann einen Wert von 0. "Er zeigt, wie groß der Anteil des Gesamteinkommens ist, der umverteilt werden muss, damit der zugegebenermaßen unrealistische Fall absoluter Gleichheit zwischen allen Bürgern herrscht", sagt Gangl.

Arbeit, wenn auch keine gut bezahlte

Seit Mitte der 90er Jahre bis etwa 2005 sei der Gini-Koeffizient größer geworden, so der Soziologe. Grund sei die De-Industrialisierung und die Schaffung eines Dienstleistungssektors mit deutlich schlechter bezahlten Jobs. Hinzu kamen die Folgen der deutschen Einheit. Ab 2005 stabilisiert sich die Ungleichheit allerdings. Der Grund: "Mit den Hartz-Reformen wurden Sanktionen eingeführt, die mehr Menschen in Arbeit brachten — wenn auch nicht unbedingt in gut bezahlte", erklärt Gangl.

Seit 2008 — also seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise — hat die Ungleichheit tendenziell sogar nachgelassen. Laut Statistischem Bundesamt sank der Gini-Koeffizient in diesem Zeitraum von 30,2 auf 28,3 im vergangenen Jahr. Verglichen mit anderen Ländern liegt Deutschland im Mittelfeld. Am gerechtesten geht es im Vergleich der Industrieländer in Slowenien (24), Dänemark (25), Norwegen (25) und Tschechien (26) zu. Die größte Ungerechtigkeit ermittelten die Statistiker dagegen für die USA (38), die Türkei (41), Mexiko (48) und Chile (49).

Bleibt festzuhalten: Zwar ist in Deutschland das Einkommen zwischen Arm und Reich ungleich verteilt, ein immer stärkeres Auseinanderdriften, wie es vom linken Spektrum gern angeführt wird, lässt sich anhand des statistischen Materials allerdings nicht belegen. Und so hält das jüngste Gutachten der Wirtschaftsweisen fest: Die Größe der Mittelschicht ist in den vergangenen 20 Jahren "weitestgehend stabil geblieben". Bei allen Mahnungen aus dem linken Lager sollte also berücksichtigt werden: Klagen hierzulande finden auf vergleichsweise hohem Niveau statt.

(RP)
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