SPD-Abweichler weiter heftig in der KritikFlammender Richtungsstreit in der SPD
Berlin (rpo). In der SPD wächst der Druck auf die Reform-Kritiker in der Fraktion. Im neu aufgeflammten Richtungsstreit nach der Abstimmung zur Gesundheitsreform werden die Töne zunehmend schärfer. Die Parteilinke fordert Kurskorrekturen, Kanzler Schröder warnt vor einer Auflösung der Regierung.SPD-Fraktionsvize Joachim Poß betonte in der "Welt am Sonntag" mit Blick auf die Abweichler bei der Abstimmung zur Gesundheitsreform: "Es geht nicht darum, jemand seine Überzeugung zu nehmen, sondern darum, den Wählerauftrag zum Regieren auszuführen. Niemand in dieser Fraktion ist politisch legitimiert, die Handlungsfähigkeit der Fraktion und der SPD als Volkspartei in Frage zu stellen." SPD-Vorstandsmitglied Ottmar Schreiner, einer der Neinsager, verteidigte sein Verhalten. Schreiner, der auch Vorsitzender der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen ist, forderte in "Focus" von seiner Partei einen "neuen Aufbruch mit klarem sozialdemokratischem Profil". "Wir werden als Sozialabbaupartei wahrgenommen", zitierte ihn das Blatt. Der Abgeordnete Reinhold Robbe vom konservativen "Seeheimer Kreis" sagte: "Diese Wackelei können wir uns nicht noch einmal leisten. Regieren kann man nur mit Mehrheit. Das müssen alle Abgeordneten der Regierungskoalition jetzt wissen. Bei den Reformgesetzen geht es nicht um Gewissensentscheidung wie Krieg und Frieden oder Gentechnologie." Nach einer ausführlichen Diskussion und klarer Mehrheitsentscheidung hätten Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Fraktionschef Franz Müntefering "Anspruch auf Geschlossenheit". Mit der Umsetzung des Reformkurses von Kanzler Gerhard Schröder werden die Gräben in der SPD immer tiefer. Der Druck auf die sechs Abweichler in der Bundestagsfraktion, die am Freitag zum Auftakt der Reform-Abstimmungen gegen die Regierung votiert hatten, nahm am Wochenende zu. Die Parteilinke verlangte von Schröder mit scharfen Worten eine Kurskorrektur. Der Kanzler lehnte dies ab und warnte erneut vor einer Auflösung der Regierung wie zu Zeiten der SPD-Kanzlerschaft von Helmut Schmidt. An diesem Montag berät der SPD- Vorstand die Leitanträge für den Parteitag Mitte November in Bochum. Schröder räumt Fehler einSchröder räumte am Samstag bei einem Gewerkschaftskongress in Hannover Fehler bei der Umsetzung seiner Reformvorhaben an, verwies aber auch mit deutlichen Worten auf die Vergangenheit der SPD: "Guckt mal genau hin, wie das 1982 gelaufen ist, als sich die sozialliberale Koalition in einem Erosionsprozess auflöste." Auch SPD- Generalsekretär Olaf Scholz lehnte in einer Veranstaltung mit der Parteilinken eine Kurskorrektur ab. In der ARD gab er sich überzeugt, dass die rot-grünen Mehrheiten wie beim Thema Gesundheit auch bei allen anderen Reform-Gesetzen stehen werden. Vor allem vom konservativen SPD-Flügel kam die Forderung nach Konsequenzen für die sechs Abtrünnigen. "Die Abweichler müssen selbst merken, dass es so nicht weiter geht. Andernfalls sollte sie die Konsequenz ziehen und ihre Mandate zurückgeben", sagte Johannes Kahrs vom "Seeheimer Kreis" der "Berliner Morgenpost" (Sonntag). Sein Kollege Karl Hermann Haack stellte die Frage, ob die SPD diese "charakterlosen Gesellen noch einmal in den Bundestag schickt". Angespannte SituationMüntefering selbst hatte am Freitagabend in der ARD angekündigt, die Abweichler müssten sich vor der SPD-Spitze rechtfertigen. Sie hätten "feige und klein kariert" gehandelt. SPD-Abgeordneten berichteten, die Mehrheit der Fraktion sei "stinksauer" auf die sechs Abgeordneten. Bei der Fraktionssitzung im Anschluss an die Abstimmung seien die Abweichler dazu aufgefordert worden, ihre Posten in Arbeitsgruppen oder gleich ihr Mandat abzugeben. Teilnehmer bestätigten dpa einen entsprechenden "Focus"-Bericht. Die Sprecherin der Parteilinken, Andrea Nahles, warnte davor, Druck auf die Abweichler auszuüben: "Die Situation ist so angespannt, dass man nicht noch Öl ins Feuer gießen sollte." Nahles griff Schröder frontal an: "Die Regierung ist konzeptionslos, perspektivlos und instinktlos." Die Parteilinke befürchtet, dass die SPD das jetzt verlorene Vertrauen bei den Wählern nicht mehr zurückgewinnen kann. Der Juso-Vorsitzende Niels Annen sagte mit Blick auf Schröders Reform-Agenda, die Diskussion um die SPD-Perspektiven könne nicht auf die Zeit nach 2010 verschoben werden. "Schröder hat nicht die Wahl alleine gewonnen, was er zu glauben scheint. ... Mit diesem Verhalten kommen wir auf Dauer nicht weiter." Bundesvorstandsmitglied Ulrich Maurer sprach von "Orientierungslosigkeit" der Regierung. Sie führe zu "einer schweren Beschädigung des Gerechtigkeitsgefühls". Wahrnung vor "hektischer und aufgeregter Diskussion"Scholz warnte vor einer "hektischen und aufgeregten Diskussion" und rief zur Geschlossenheit auf. "Wir müssen die Menschen wieder zurückerobern." Er erinnerte die Linke an den Parteitagsbeschluss vom Juni zur Umsetzung der Reform-Agenda. Dieser Beschluss stehe weiterhin. "Jetzt kommt die Phase, wo es wirklich rau wird." Auch die Gewerkschaften erneuerten ihre Kritik am Kurs der Regierung. DGB-Chef Michael Sommer warf Schröder in der "Berliner Zeitung" (Samstag) vor, wesentliche Wahlversprechen zu brechen. In der Unions-Fraktion regte sich am Wochenende ebenfalls Unzufriedenheit über das eigene Abstimmungsverhalten bei der Gesundheitsreform. "Wir haben eine Chance verpasst, der Regierung eine politische Niederlage zu bereiten", sagte Fraktionsvize Wolfgang Bosbach der "Bild am Sonntag". Da am Freitag im Bundestag bei der Union 23 Parlamentarier fehlten, war es für die Regierungskoalition leichter gewesen, ihre eigene Mehrheit zu erreichen.