Persönlich Anthony Doerr . . . erzählt von Liebe im Krieg
Einmal angenommen, dass es Anthony Doerr gar nicht gäbe, so müssen ihn die in Jurys hausenden Literaturkritiker einfachheitshalber erfinden. Weil der US-amerikanische Autor der geborene Preisträger ist: mit 41 Jahren so jung, dass er gerade noch als Nachwuchsautor gelten darf, dabei in seinen Werken so konstant, dass man bei seiner Wahl keinen Fehlgriff fürchten muss; und schließlich packt er Themen an, die große Zeitstrecken abschreiten und die über das Erscheinungsjahr hinaus wirken. Und so war Anthony Doerr nicht nur Finalist des National Book Award; er hat bereits den Barnes Noble Discover Prize eingeheimst, den Rome Prize, den Young Lions Fiction Award der New York Public Library und auch den Story Prize. Jetzt kommt gar der Pulitzer-Preis hinzu, der zum 99. Mal verliehen wird und der ein klein wenig größer klingt, als er für die Literatur ist. Denn diese prominente Ehrung nimmt vor allem journalistische Werke unter die Lupe.
Trotz allem: Anthony Doerr wird sehr schnell auch in Europa eine große Hausnummer sein, eine kleine ist er schon mit dem preisgekrönten Roman "Alles Licht, das wir nicht sehen" - ein Buch, das vor allem mit seinem Hauptpersonal ein wenig kitschig und auch rührselig anmutet, es aber nicht ist. Doerr erzählt von der 16-jährigen Französin Marie-Laure, die blind ist. Und vom deutschen Waisenjungen Werner, für den das Radio die Welt erschließt. Es ist August 1944, und die Teenager treffen einander ausgerechnet in Saint-Malo, ausgerechnet in jener französischen Stadt, in der die Deutschen hartnäckig Widerstand leisten. Eine junge Liebe in Zeiten des totalen, blindwütigen Krieges. Darum ist es viel mehr als nur eine schicksalhafte Romanze; der Roman öffnet auch das Fenster in eine Epoche. Anthony Doerr ist im Grunde ein europäischer Erzähler mit einem langen epischen Atem. Der Pulitzer dürfte nur der Anfang eines lorbeerreichen Schriftstellerlebens sein.
Lothar Schröder