Analyse vor dem EU-Gipfel Klimakanzlerin unter Druck

Berlin · Auf dem EU-Gipfel heute müssen die 28 Staaten zeigen, dass sie zu einer gemeinsamen Anstrengung für den Klimaschutz in der Lage sind. Die Osteuropäer wollen sich ihre Zustimmung zum neuen EU-Klimapaket abkaufen lassen.

Angela Merkel: Klimakanzlerin unter Druck
Foto: dapd, dapd

Alle Blicke werden heute und morgen in Brüssel auf Angela Merkel gerichtet sein. Die Bundeskanzlerin soll einmal mehr die Kuh vom Eis holen, wenn die Staats- und Regierungschefs der zerstrittenen 28 EU-Länder zusammentreffen, um ein neues Klima- und Energiepaket zu beschließen. Die Europäer wollen sich für die Zeit nach 2020 ehrgeizige, gemeinsame Klimaziele geben, doch die Details und der Weg dorthin sind höchst umkämpft.

Gelingt ihnen unter Merkels Moderation heute oder morgen der Durchbruch, könnte Europa dem Rest der Welt signalisieren: Wir gehen mit ambitionierten Klimaschutz-Zielen voran und erwarten von euch, dass ihr das Gleiche tut. Denn die Erwärmung des Planeten schreitet unvermindert voran. Etliche Versuche der Weltgemeinschaft, dieses Problem in den Griff zu bekommen, sind in den vergangenen Jahren gescheitert. Doch die Menschheit - das sagen alle anerkannten, bekannten Studien der Weltklimaforscher - hat nicht mehr viel Zeit. Handelt sie nicht unverzüglich und konsequent, ist die Natur in vielen Regionen der Welt akut bedroht, das Leben dort für kommende Generationen nur noch schwer erträglich oder unmöglich. Auf dem Weltklimagipfel Ende 2015 in Paris ist daher eine Anschlusslösung für das 2020 auslaufende Kyoto-Protokoll zur Verringerung des Kohlendioxid-Ausstoßes unerlässlich.

Auf dem Tisch der Gipfelteilnehmer liegt heute eine vom scheidenden Ratspräsidenten Herman Van Rompuy bereits vorbereitete Abschlusserklärung. Darin verpflichten sich die EU-Staaten, den Ausstoß von CO2 bis 2030 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Damit würde die EU ihre bisherige Zielsetzung verdoppeln, denn bisher lag die Zielmarke bis 2020 bei minus 20 Prozent gegenüber 1990. Bei der Ausstoß-Reduktion ist die EU einigermaßen gut vorangekommen, obwohl in Deutschland die Emissionen infolge der Energiewende und des Verfalls der Weltmarktpreise für Kohle zuletzt sogar wieder gestiegen sind.

Außerdem soll der Gipfel weitere Ziele beschließen, die aber ebenfalls nur für die Gemeinschaft insgesamt gelten sollen und deshalb für die einzelnen Staaten nicht bindend sein werden, was Umweltverbände heftig kritisieren: Die EU als Ganzes will den Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtstromverbrauch bis 2030 auf 27 Prozent erhöhen. Bisher erreicht hat sie etwa 20 Prozent, vor allem dank der Energiewende in Deutschland. Um ebenfalls 27 Prozent will sie ihre Energieeffizienz gegenüber 1990 steigern. Bis vorgestern war noch ein ehrgeizigeres Ziel von 30 Prozent geplant. Doch beim Energiesparen ist die EU bisher kaum vorangekommen. Die Zielmarke von nur 27 Prozent war gestern ein Zugeständnis an die Bremser in der EU.

Ursprünglich hatte die EU auch für den Ökostrom-Anteil ein 30-Prozent-Ausbauziel angepeilt, dieses jedoch auf Druck vieler Staaten, die nicht wie Deutschland auf erneuerbare Energien setzen, schon früher um drei Punkte gesenkt. Dennoch gilt das Klimapaket immer noch als ambitioniert. Denn in der EU hat sich die Gefahr des Rückfalls in die Rezession erhöht, seitdem auch die deutsche Konjunktur ins Stottern geraten ist. Auch Angela Merkel hat die Warnungen der Industrie vor Überforderungen beim Klimaschutz wohl gehört, wie gestern vor ihrem Abflug aus Regierungskreisen verlautete. Bemerkenswert war andererseits auch, dass 57 führende Unternehmen der Welt, darunter Coca-Cola, Ikea und Shell, in einem offenen Brief an die EU und die Weltgemeinschaft appelliert haben, den Klimaschutz endlich anzupacken.

Die Ukraine-Krise hat allen in der EU vor Augen geführt, dass neben dem Klimaschutz ein weiteres Argument für ein ehrgeiziges gemeinsames Vorgehen in der Energiepolitik spricht: Die EU muss ihre Abhängigkeit von russischem Öl und Gas dringend verringern, um weniger erpressbar zu sein. Das gelingt am besten durch die Steigerung der Energieeffizienz und einen höheren Anteil an erneuerbaren Energien.

Länder wie Polen und andere in Osteuropa, die ärmer sind als Deutschland, wollen sich ihre Zustimmung zum Klimapaket auf dem Gipfel abkaufen lassen. Das wird voraussichtlich so funktionieren: Kernstück der europäischen Klimapolitik soll die Wiederbelebung des darniederliegenden Emissionshandels sein. Wer als Industrieunternehmen massenweise Kohlendioxid ausstößt, muss dafür schon jetzt Emissionsrechte erwerben. Doch diese Zertifikate sind viel zu billig, weil es viel zu viele am Markt gibt. Deshalb ist das System kaum noch wirksam. Die EU will die Zahl der Zertifikate nun deutlich verringern, so dass die Verschmutzung der Luft für die Unternehmen wieder teurer wird. An dieser Stelle soll es Entlastungen für polnische und andere osteuropäische Unternehmen geben. Zum Beispiel, indem Länder, deren Wirtschaftsleistung bei weniger als 90 Prozent des EU-Durchschnitts liegt, mehr Emissionsrechte zugeteilt bekommen als andere.

Vor dem Gipfel liefen gestern die Telefondrähte zwischen Brüssel, Berlin und Warschau heiß. Die Unterhändler Van Rompuys in Brüssel und die Bundesregierung versuchten, die zaudernde polnische Regierung vom Klimapaket zu überzeugen. Warschau befürchtet zu hohe Kosten für seine Wirtschaft. In Brüssel erklärten Diplomaten, sie seien sehr zuversichtlich, dass heute oder morgen ein Durchbruch gelingen werde. In deutschen Regierungskreisen wurde diese Erwartung dagegen gedämpft: Man sei "in intensiven Gesprächen mit den polnischen Kollegen", aber ob es zu einer Lösung komme, werde sich erst auf dem Gipfel zeigen. Die Bundesregierung bemühe sich zwar um einen Kompromiss. Aber alle müssten dafür dann auch ihren "fairen Anteil" beitragen.

High Noon für Merkel: Ihr Verhandlungsgeschick ist wieder sehr gefragt.

(mar)
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