Andrea Nahles Die Hoffnungsträgerin der SPD

Berlin · Je tiefer die Umfragewerte der Sozialdemokraten sinken, desto häufiger fällt ihr Name, wenn es um die Aufstellung nach der Bundestagswahl geht: Arbeitsministerin Andrea Nahles.

Andrea Nahles - Fraktionsvorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion
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Das ist Andrea Nahles

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Es ist die letzte Bundestagsdebatte dieser Wahlperiode. Wenn sich Andrea Nahles von der Regierungsbank erhebt, folgt das meistens einem Muster: Sie streckt ihren Körper mit einem Ruck durch, zupft das Jackett glatt und geht zum Rednerpult. Dann legt sie los. Wahlkampf.

Sie fordert eine Anhebung des Mindestlohns und rät den Frauen im Land, Martin Schulz zu wählen. Das bringe Frauen mehr, als Angela Merkel zu wählen, der sie vorwirft die Gesetze zur Lohngleichheit und für ein Rückkehrrecht in Vollzeit verhindert zu haben.

Nahles ist richtig gut an diesem Vormittag. Die Kanzlerin, die sich sonst oft abwendet, wenn SPD, Linke oder Grüne auf sie schimpfen, hört zu und grinst zwischendrin. Merkel schätzt Nahles für ihre Verlässlichkeit und ihre Professionalität. Nahles' sichere politische Instinkte nötigen der Kanzlerin Respekt ab.

Sie hat einfach ihren Job gemacht

In der SPD ist Andrea Nahles mittlerweile die Hoffnungsträgerin in einer aussichtslosen Situation: Je tiefer die Umfragewerte sinken, desto häufiger fällt bei den Sozialdemokraten ihr Name, wenn es um die Frage geht, wie man sich nach der Bundestagswahl neu aufstellen kann.

Die Arbeitsministerin, die in früheren Zeiten mit harten Bandagen an der Parteispitze mitmischte, hat sich in der laufenden Wahlperiode bewusst aus der Parteiarbeit herausgehalten. Sie hat einfach nur ihren Job gemacht: Mindestlohn, Rente ab 63, mehr Rechte für Leiharbeiter, Tarifeinheit, Angleichung der Ost-West-Renten — kaum ein Minister oder eine Ministerin kann so viele dicke Gesetze vorweisen wie sie. Geholfen hat es der SPD nicht.

Bei den Gewerkschaften und den Arbeitgebern genießt Andrea Nahles Anerkennung. Dass bei SPD-Parteitagen wieder die Chefs aller großen Gewerkschaften in der ersten Reihe sitzen, ist vor allem ihr Verdienst. Bei den Arbeitgebern heißt es über sie: "Wir sind zwar nicht ihrer Meinung, aber sie hört zu und sie ist verlässlich."

Wie viele Stimmen bekommt die SPD?

Die Spitzen der Union reden ähnlich über sie. Neben Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) saß sie während der vergangenen vier Jahre oft scherzend oder freundlich plaudernd auf der Regierungsbank, auch wenn sie mit ihm hinter den Kulissen hart um die Zuschüsse für die Angleichung der Ost-West-Renten verhandelte.

Dem früheren SPD-Parteichef Sigmar Gabriel wurde erst klar, was er an der organisationsstarken und machtpolitisch erfahrenen Nahles hatte, als sie vom Amt der Generalsekretärin an die Spitze des Arbeitsressorts gewechselt war. Sollte die Bundestagswahl so dramatisch ausgehen, wie es die aktuellen Umfragewerte mit 21 oder 22 Prozent für die Sozialdemokraten voraussagen, wird Nahles in der Partei möglicherweise wieder eine wichtigere Rolle spielen.

Ihre Stunde kann am Tag nach der Bundestagswahl schlagen. Die Frage ist, ob sie nach einer krachenden Niederlage die ganze Macht und die ganze Verantwortung an sich ziehen möchte.

Ein Parteiamt wäre eine zusätzliche Belastung

Nahles ist nicht nur Politikerin. Sie ist auch Mutter einer sechsjährigen Tochter. Vom Vater des Kindes lebt sie getrennt. Die Vereinbarkeit von Ministerjob und Familie gelang ihr dank guter Logistik: Gelegentlich schaltete sie sich per Videokonferenz von ihrem Haus in der Eifel ins Ministerium. Immer wieder nutzte sie auch den Bonner Zweitsitz ihrer Behörde zum Regieren. Von dort ist es für sie nicht weit nach Hause. Ab und zu turnte Tochter Ella auch über die Flure im Berliner Ministerium.

Ein Minister- und ein Parteiamt? Das wäre auf jeden Fall eine erhebliche Zusatzbelastung für Nahles. Sollten die Sozialdemokraten allerdings in der Opposition landen, gilt sie als heiße Anwärterin für den Fraktionsvorsitz. Ihre fulminante Rede im Bundestag vergangene Woche wurde von vielen Genossen als Bewerbung für den Job als Oppositionsführerin verstanden.

Wie man dramatische Machtwechsel an einer Parteispitze vollzieht, zeigte sie mehr als einmal. Laut einer Legende hat die 47-Jährige drei SPD-Chefs auf dem Gewissen. Noch als Juso-Chefin organisierte sie beim Parteitag in Mannheim 1995 die Mehrheiten für den Sturz des damaligen SPD-Chef Rudolf Scharping und half damit Oskar Lafontaine an die Spitze der Partei.

Berufswunsch war "Hausfrau oder Bundeskanzlerin"

Auch Gerhard Schröder setzte sie hart zu: Ihn bezeichnete sie wegen seiner Arbeitsmarktreformen als "Abrissbirne" des Sozialstaats. 2004 gab Schröder als Kanzler unter dem Druck des linken Parteiflügels den Parteivorsitz an Franz Müntefering ab. 2005 wiederum setzte sich Nahles in einer Kampfabstimmung im Vorstand als Kandidatin für das Amt der Generalsekretärin durch. Müntefering, der sie als Generalsekretärin ablehnte, kandidierte daraufhin nicht erneut für den Parteivorsitz.

In die Wiege gelegt wurde der Maurerstochter aus der Eifel die politische Karriere nicht. In ihrem konservativ katholisch geprägten Heimatort Mayen in Rheinland-Pfalz gab es noch nicht einmal einen SPD-Ortsverein. Den gründete Nahles, nachdem sie 18-jährig in die Partei eingetreten war. In der Abiturzeitung gab sie als Berufswunsch "Hausfrau oder Bundeskanzlerin" an.

Es gilt zumindest nicht mehr als ausgeschlossen, dass sie 2021 als erste Frau ihrer Partei in den Bundestagswahlkampf zieht. Die katholische Prägung ihrer Kindheit hat sie beibehalten. Bei Abstimmungen über Fragen von Leben und Tod, die als Gewissensfragen im Bundestag überfraktionell abgestimmt werden, fand sie sich häufig mit Christdemokraten im Bund.

Sie geht keinem Streit aus dem Weg

Nahles wäre heute nicht dort, wo sie ist, wenn sie nicht auch häufiger mal etwas riskiert hätte. Sie selbst bekundete einmal in einer TV-Talkshow, sie sei nicht in die Politik gegangen, um mit Wattebäuschchen zu werfen. Die studierte Germanistin kann aber nicht nur Offensive. Sie ist auch eine Strategin und immer bereit, etwas dazuzulernen. Nur dadurch konnte sie sich von der ungestümen Juso-Chefin zur seriösen Arbeitsministerin wandeln.

Dabei ist sie sich treu geblieben. Sie ist immer noch impulsiv, wirft gerne mit Kraftausdrücken um sich und geht keinem Streit aus dem Weg. SPD-Chefs umpusten — das kann sie bestimmt immer noch. Aber sie macht es nicht mehr, ohne dabei die Konsequenzen zu bedenken.

(qua)
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