Ungarn Abwarten und gewinnen

Meinung | Budapest · Bei der Wahl in Ungarn bekommt es Dauerpremier Viktor Orbán erstmals mit einer geeinten Opposition zu tun. Doch die dramatische Weltlage stärkt den Amtsinhaber, der für die Gunst der Wähler selbst kaum etwas tun muss.

 Orban-Wahlplakat in Ungarn: „Frieden und Sicherheit beschützen“.

Orban-Wahlplakat in Ungarn: „Frieden und Sicherheit beschützen“.

Foto: AFP/ATTILA KISBENEDEK

In Sachen Zeitenwende macht Viktor Orbán niemand etwas vor. Damit kennt sich der ungarische Premier seit 1989 aus. Damals ist Orbán ein 26-jähriger Student, der sich in Budapest an die Spitze der friedlichen Revolution stellt. Auf dem Heldenplatz fordert er in einer flammenden Rede den Abzug der sowjetischen Truppen. Als Erster im Land. Und so ist es kein Wunder, dass Orbán auch drei Jahrzehnte später als Erster reagiert. Kaum ist die russische Armee in die Ukraine eingefallen, reist er in das 600-Seelen-Dorf Beregsurány im äußersten Osten Ungarns. Der nächste Bahnhof ist 20 Kilo­meter entfernt. Aber eine Schule haben sie in Beregsurány, die nun als Zentrum für Kriegsflüchtlinge dient. Viktor Orbán hockt sich auf ein Feldbett zu zwei Mädchen, die mit ihm scherzen und lachen. Die Bilder gehen durch alle Medien des Landes.

Man kann das gut finden oder auch nicht, aber klar ist: So geht Wahlkampf. Noch zu Jahresbeginn stand Orbán stark unter Druck. Doch nun, kurz vor der Wahl am 3. April, sagen fast alle Umfragen dem Dauerpremier den vierten Sieg in Folge voraus. Wenn auch knapper als gewohnt. Seit 2010 verfügt Orbáns rechtskonservativer Fidesz über eine absolute Mehrheit im Parlament. Der Regierungschef hat die Macht genutzt, um Ungarn in eine „illiberale Demokratie“ zu verwandeln, wie er selbst sagt. Kritiker sprechen von einer autoritären Ein-Mann-Herrschaft. Die EU-Kommission hat dem „System Orbán“ den Kampf angesagt. Und auch die Opposition in Budapest hat nach Jahren des Streits die Reihen geschlossen. Sie hat mit dem 49-jährigen Péter Márki-Zay einen wertkonservativen, aber weltoffenen und charismatischen Gegenkandidaten gefunden.

Jetzt aber ist da der Krieg, der alles auf den Kopf stellt. Zum Beispiel die Einstellung zu Geflüchteten. Ausgerechnet Viktor Orbán, der in der Migrationskrise 2015 ein „Bollwerk des christlichen Abendlandes“ gegen Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten errichten ließ, gibt nun den Schutzherrn ukrainischer Frauen und Kinder. „Jeder, der in Not ist, kann auf uns zählen“, sagt er. Und der Premier hat auch die passende Botschaft parat, um den Sinneswandel zu erklären und ihn seinen Landsleuten schmackhaft zu machen. „Unsere Wirtschaft befindet sich im Aufschwung, aber uns fehlen Arbeitskräfte.“ Dass die Hilfesuchenden diesmal weiße Christen sind, erwähnt er nicht. Muss er auch nicht. Es wissen ohne­hin alle.

Das Zupackende jedenfalls zieht. Noch im Dezember, bevor der russische Präsident Wladimir Putin erstmals indirekt mit einer Invasion in der Ukraine drohte, lagen der Fidesz und der Oppositionsblock „Vereint für Ungarn“ bei rund 47 Prozent gleichauf. Und der Trend lief gegen Orbán. Drei Monate später führt der Fidesz mit 50 zu 43 Prozent. Entschieden ist damit zwar noch nichts. Aber Herausforderer Márki-Zay hat sichtlich Probleme, sich auf die geänderte Lage einzustellen. Besonders eindrücklich zeigt sich das am 15. März, dem Nationalfeiertag. Márki-Zay beschwört in einer Rede vor Tausenden Anhängern den Kampf zwischen Gut und Böse. „Wir müssen Europa wählen statt Putins Russland“, ruft er. Und: „Wir wählen Freiheit statt Sklaverei, Wohlstand statt Elend.“ Bei anderer Gelegenheit nennt er Orbán einen „Vater­landsverräter“.

Der Herausforderer wählt immer wieder drastische Worte. Er wirft dem Premier vor, Ungarn in einen „faschistischen Einparteienstaat“ verwandeln zu wollen. „Die Nazis wären begeistert.“ Aber all das ist nicht nur spürbar zu viel des Guten und des Bösen. Es ist auch der falsche Ansatz. In Krisenzeiten, das gilt unter Politstrategen als Binsenweisheit, wächst mit der Unsicherheit das Bedürfnis nach Sicherheit. Und damit auch nach Kontinuität. Erst recht gilt das für Kriegszeiten. So gesehen hat Orbán in diesen Wochen schon ohne eigenes Zutun einen Vorteil. Und wenn der Herausforderer dann auch noch auf Konfrontation setzt statt auf Geschlossenheit, dann spielt das dem Amtsinhaber erst recht in die Karten.

„Orbán verfolgt ein Konzept der strategischen Ruhe“, erklärt der frühere Parlamentarier Istvan Hegedüs, der heute die liberale Hungarian Europe Society leitet. Der Satz klingt für einen Regierungskritiker fast schon bewundernd. Und tatsächlich scheint Orbáns Konzept aufzugehen. Besonders bitter für die Opposition ist, dass Márki-Zay eigentlich selbst mit Ruhe und Solidität punkten wollte. Der bodenständige Bürgermeister einer südungarischen Mittelstadt und Vater von sieben Kindern galt auch deshalb als idealer Kandidat, weil Orbán ihn nicht mit seinen gängigen Parolen gegen „Genderwahn“ und „linke Multikultifantasien“ stellen kann. Doch nun stiehlt der Premier seinem Herausforderer die Schau, indem er gerade nicht polemisch überzieht, sondern mit seinen bald 60 Jahren den erfahrenen Landesvater gibt.

Es ist nicht zu übersehen: Der Krieg hat die Karten in Ungarn neu gemischt, und der wahlkampferprobte Orbán hat das zielsicher erkannt. Es fällt dem Premier nicht einmal allzu schwer, seine jahrelange Nähe zu Putin positiv zu deuten. Ungarn sei in der Geschichte oft zum „Spielball der Großmächte“ geworden. Deswegen sei es richtig, nicht voreilig Partei zu ergreifen. Orbán will Putin „nicht provozieren“. Zumal Ungarn von Rohstoffimporten abhängig sei. Dass er in seiner langen Regierungszeit selbst viel dafür getan hat, diese Abhängigkeit zu vertiefen, sagt der Premier nicht. Und schon gar nicht erinnert er an seinen eigenen Freiheitskampf von 1989.

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