Eine Demokratie demontiert sich Die unmögliche Supermacht

Analyse | Washington · Die USA sind derzeit schwer zu fassen. Technologisch und wissenschaftlich beherrschen sie weiterhin die Welt, aber die Zweifel an der demokratischen Integrität wachsen. Kann das Land weiterhin die Welt führen?

 Demonstranten versammeln sich am Tag der US-Präsidentschaftswahl vor dem Weißen Haus am Black Lives Matter Plaza.

Demonstranten versammeln sich am Tag der US-Präsidentschaftswahl vor dem Weißen Haus am Black Lives Matter Plaza.

Foto: dpa/Essdras M. Suarez

Bound to lead – zur Führung verpflichtet, so hieß der Titel eines einflussreichen Buchs des US-Politologen Joseph Nye, das vor rund 30 Jahren erschien. Der amerikanische Wissenschaftler erteilte mit diesem Werk all jenen eine Absage, die die Vereinigten Staaten am Ende ihrer weltumfassenden Stellung sahen. Er sollte recht behalten. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs galten die USA lange Zeit als einzig verbliebene Supermacht.

Nach vier Jahren Donald Trump, in denen der US-Präsident Freund und Feind in regelmäßigen Abständen vor den Kopf stieß und Verwüstungen in der Welt der Diplomatie anrichtete, ist eine ähnliche Stimmung vorherrschend wie Ende der 80er Jahre. Der stärksten Wirtschafts- und Militärmacht der Erde wird abermals der unaufhaltsame Abstieg vorhergesagt. Die Nation gilt als tief gespalten, die demokratischen Institutionen als angegriffen, und die moralische Integrität als verletzt.

Tatsächlich hat Trump viel dazu beigetragen, dass die Freunde der Vereinigten Staaten in der Welt weniger geworden sind. Und die verbliebenen können es immer schwerer erklären, warum sie weiterhin die älteste Demokratie der Welt als Vorbild ansehen. „Die amerikanischen politischen Institutionen haben sich über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen, doch haben sie in der letzten Generation begonnen zu verfallen“, hat der bekannte US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama erkannt, der noch vor drei Jahrzehnten eine Ära des friedlichen Miteinanders vieler Demokratien nach amerikanischem Vorbild prognostizierte.

Die Vereinigten Staaten waren lange Zeit wirklich das Modell, an dem sich die Welt orientierte. Fast alle wissenschaftlichen Nobelpreise gehen in die USA, in populärer Musik und Literatur sind amerikanische Künstler global tonangebend. Und die fünf wertvollsten Unternehmen der Welt, allesamt in der digitalen Branche unterwegs, kommen aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Dieses materielle und immaterielle Vermögen hat das Land schlecht gepflegt. Die Eliten haben zugelassen, dass sich große Gruppen aus dem gesellschaftlichen Konsens verabschiedeten, dass Waffennarren und radikale Abtreibungsgegner die politische Agenda bestimmten und sich die ethnische Vielfalt des Landes in Parallelgesellschaften aufspaltete. Es fehlte der Kompromiss, das vernünftige Miteinander und damit die Vorbildfunktion für die restliche Welt.

Sicher, die amerikanische Zivilgesellschaft hat große Leistungen vollbracht. Sie hat das Geschwür der Sklaverei in einem bitteren Bürgerkrieg überwunden, wenn sie auch nie den Rassismus besiegte. Sie hat zweimal Europa den Frieden gebracht, als sich der alte Kontinent zerfleischte und Abschied von der einst führenden Position nahm. Die USA haben den Hunger in der Welt bekämpft, den Kommunismus niedergehalten, den Freihandel gesichert und für die Demokratie missioniert. Dass die Welt im 21. Jahrhundert trotz Terrorismus und zahlreicher bewaffneter Konflikte friedlicher als jemals in der Geschichte der Menschheit ist, liegt nicht zuletzt an dieser Supermacht.

Doch irgendwie gingen damit auch Hybris und Selbstgerechtigkeit einher. Der Entfesselung der produktiven ökonomischen Kräfte, sicher ein Pluspunkt der US-Entwicklung, stand kein soziales Korrektiv gegenüber. Die Bildung wurde vernachlässigt, und die Demokratie verkam zum Machtgeschacher polarisierter Parteien.

Es fing schon nach der Machtübernahme von Georg W. Bush an. Eine Gruppe ebenso gewissenloser wie ideologischer Neo-Konservativer wie Ex-Vizepräsident Richard Cheney oder Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld belogen die Öffentlichkeit, um einen präventiven Angriffskrieg gegen den Irak vorzubereiten. Hier verlor die US-Demokratie ihre Unschuld.

Das unwürdige Ringen um die Gesundheitsreform und die Kürzungen der Sozialhilfe für die Ärmsten tat ein Übriges. Derweil verloren die linksliberalen Führungspolitiker der Demokraten den Kontakt zur Arbeiterschaft und zu den Ängsten der einfachen weißen Bevölkerung. Das politische System erwies sich als unfähig, Konflikte zu lösen.

Mehr denn je müssen die Menschen in der Welt zusehen, wie die USA Brandherde wie den Nahen Osten sich selbst überlassen oder dem Aufstieg neuer autoritärer Modelle wie in China und Russland wenig entgegensetzen.

Die Verbündeten der USA, vor allem in Europa, fühlen sich alleingelassen. Vier weitere Jahre mit Trump wären das Ende der transatlantischen Partnerschaft und der Nato. Nur mit dem gemäßigten Joe Biden als Präsident könnten die einst so eng befreundeten Länder ihre Beziehungen wieder neu ordnen.

Die Vormacht USA fasziniert uns noch immer. Sie bestimmt über Filme und Pop-Kultur unser Leben, über die Technologie unseren Fortschritt und über die militärische Stärke unseren Schutz. Noch sind die Vereinigten Staaten vital genug, um nach dunklen Stunden erneut ein Kapitel in der Weltgeschichte aufzuschlagen – im Umgang mit den neuen Technologien wie mit der Vielfalt unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Ein neues Identifikations-Paradigma müsste entstehen. Die Institutionen müssten sich als stärker erweisen als der Machtwille einzelner skrupelloser Politiker. Die Chance ist da, sie kann aber auch vertan werden.

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