Russlands Atomkrieg-Drohung Das Tabu ist gebrochen

Analyse | Düsseldorf · Immer wieder rückt Russlands Präsident Wladimir Putin das Schlimmste in den Bereich des Möglichen: den Einsatz von Nuklearwaffen im Krieg um die Ukraine. Die USA und die Nato nehmen die Drohung ernster als zuvor.

Zeremonie im Kreml: Putin unterzeichnet Verträge zur Annexion
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So lief die Zeremonie zur Annexion der ukrainischen Gebiete im Kreml

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Foto: dpa/Grigory Sysoyev

Mit der Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland, der unverhohlenen Drohung seines Präsidenten Wladimir Putin, Nuklearwaffen einzusetzen, und den von wem auch immer verübten Anschlägen auf die beiden Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee ist der Krieg in Europa in eine neue Phase getreten. Die Hoffnung des Westens, die militärische Auseinandersetzung an der Ostgrenze der EU weitgehend einhegen zu können, hat einen empfindlichen Dämpfer erfahren. In der US-Hauptstadt Washington und im Nato-Hauptquartier in Brüssel werden derzeit Szenarien durchgespielt, wie ein russischer Angriff mit taktischen Atombomben aussehen könnte und wie die Reaktion des transatlantischen Bündnisses in einem solchen Fall wäre. Dass sie hart ausfallen würde, steht außer Frage.

Durch die Bekräftigung, gegebenenfalls alle verfügbaren Mittel in diesem Konflikt einzusetzen, hat sich Putin nicht einfach auf das Niveau säbelrasselnder Atommächte wie Nordkorea oder Pakistan begeben. Der Autokrat im Kreml überschreitet damit die rote Linie, die im Kalten Krieg im Osten wie im Westen respektiert wurde: Trotz gewaltiger Atombombenarsenale galt als Tabu, explizit damit zu drohen, andere damit zu erpressen oder auf diese Weise einen mit konventionellen Waffen geführten Konflikt abzusichern.

Der nukleare Schrecken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sprach vielmehr aus nüchternen Stationierungsstatistiken, die regelmäßig aktualisiert wurden. Allen war klar, was schließlich der damalige sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan 1985 in Genf gemeinsam formulierten: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden.“ Dieser Satz bildet den Kern eines Kommuniqués, das noch im Januar 2022 von den fünf offiziellen Atommächten unterzeichnet worden war: den USA, China, Frankreich, Großbritannien – und Russland.

Wladimir Putin bricht mit diesem Tabu, indem er einen solchen Krieg wieder und wieder in den Bereich des Möglichen rückt. Schon zu Beginn des Einmarschs im Februar hatte er die Atomstreitkräfte seines Landes demonstrativ in Alarmbereitschaft versetzt. Mit einstweilen rhetorischen Interkontinentalraketen aus dem Kreml bereitete er systematisch das Feld dafür, was jetzt eine neue Dimension anzunehmen scheint. Im achten Monat ihrer Offensive erlebt Putins Armee ein militärisches Debakel. Im Eiltempo hat sich Russland völkerrechtswidrig Teile der Ukraine einverleibt, damit – so die krude Logik – der Versuch, diese Gebiete auch mit militärischer Hilfe des Westens zurückzuerobern, als Angriff auf das eigene Territorium gewertet werden und somit den Grund für den Einsatz von Atomwaffen liefern könnte.

Nun erhält eine Warnung nicht unbedingt mehr Gewicht, indem man sie wiederholt und obendrein hinzufügt, es handele sich keineswegs um einen Bluff. Aber die Führung in Moskau kämpft auch wegen der Wirtschaftssanktionen und des Unmuts in der eigenen Bevölkerung aufgrund der Teilmobilmachung inzwischen ums politische Überleben. Von Putin selbst stammt die Geschichte von der Ratte, die er als Junge einst in dem armseligen Leningrader Wohnblock, wo die Familie hauste, in die Enge trieb: „Da bäumte sie sich plötzlich auf und ging auf mich los. Das geschah völlig unerwartet, und ich war einen kurzen Moment geschockt. Jetzt hatte sie den Spieß umgedreht und jagte mich!“

Es gibt also Gründe genug, warum die USA in den vergangenen Tagen Russland nicht nur öffentlich, sondern vor allem über die viel effektiveren inoffiziellen Kanäle zwischen Washington und Moskau sehr ernsthaft vor den „katastrophalen“ Konsequenzen eines Atomwaffen-Einsatzes gewarnt haben. Der könnte so aussehen: Russland führt eine kleinere Nuklearexplosion über dem Schwarzen Meer herbei und setzt damit ein Zeichen der Einschüchterung. Denkbar wäre auch die Zündung einer Bombe hoch über der Ukraine, deren Wirkung nicht tödlich wäre, deren elektromagnetischer Impuls jedoch die gesamte Kommunikation und militärische Aufklärung des Landes lahmlegen würde.

Im schlimmsten und deshalb äußerst unwahrscheinlichen Fall könnte Putin den Befehl geben, eine ukrainische Großstadt mit einem Schlag in Schutt und Asche zu legen. Damit aber würde Russland international vollständig isoliert. Selbst sein mächtigster Verbündeter China würde sich abwenden. Doch auch die erstgenannten Szenarien reichten wohl aus, um den Krieg eskalieren zu lassen. Ein Angriff der USA mit konventionellen Waffen gegen russische Stellungen auf ukrainischem Territorium, womöglich auch gegen die russische Schwarzmeerflotte, wäre nicht auszuschließen, um Moskau klarzumachen, dass die nukleare Ausweitung des Konflikts nicht akzeptiert wird. Dann wäre es an Putin, sich den Satz seines Vorgängers vor Augen zu führen: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden.“

Bei Militärparaden in Moskau zeigt sich Russland gerne als Atommacht, hier am 22. Mai 2022 zum „Tag des Sieges“ mit ballistischen RS-24 Yars-Raketen.

Bei Militärparaden in Moskau zeigt sich Russland gerne als Atommacht, hier am 22. Mai 2022 zum „Tag des Sieges“ mit ballistischen RS-24 Yars-Raketen.

Foto: dpa/Alexander Zemlianichenko

Die Karten liegen auf dem Tisch. Die russische Elite fürchtet zu Recht, politisch und wirtschaftlich mit Putin unterzugehen, sollte die Ukraine diesen Krieg gewinnen. Mehr noch aber fürchtet sie wohl ihren physischen Untergang. Vor der Feierstunde zu den Annexionen am vergangenen Freitag in Moskau unterstrich Putins Sprecher Dmitri Peskow denn auch, man wolle nicht weiter über eine „nukleare Eskalation“ sprechen. Ein Einsatz solcher Waffen sei nur möglich, wenn „die Existenz Russlands selbst“ bedroht sei.

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