Trotz der Eskalation im Nahen Osten Juden und Muslime sind Geschwister
Analyse · Ein Rabbi und eine islamische Theologin plädieren für einen engeren Dialog der beiden Weltreligionen. Gerade auch in Zeiten der extremen Auseinandersetzung und Ausgrenzung.
Oft wird davon ausgegangen, dass Juden und Muslime automatisch miteinander verfeindet sind – und die momentane Situation in Nahost scheint das zu bestätigen. Aber menschlich, theologisch und religionspraktisch gibt es viel Verbindendes zwischen Judentum und Islam, sodass wir gerade jetzt mehr Dialog brauchen.
Zentrale Figuren in Thora und Koran sind Abraham und seine Söhne – auch für die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen. In der Thora erscheint der Sohn Ismael zunächst wenig positiv. Als schlechter Einfluss für seinen Bruder Isaak wird er mit der Magd Hagar, seiner Mutter, in die Wüste geschickt. Als ihnen das Wasser ausgeht, legt Hagar den kleinen Ismael unter einen Baum und entfernt sich, um das Sterben des Kindes nicht mitanzusehen. Der Leser empfindet Mitleid für diese so brutale Situation. Aber schließlich rettet Gott die beiden und segnet den Jungen, den er zu einem großen Volk machen wird – zum Stammvater der Araber und späteren Muslime. Die rabbinische Literatur ergänzt, dass Abraham auch später den Kontakt mit Ismael hielt. Er gab ihm Tipps für die Ehe, betete für ihn, und sein Haus wurde gesegnet. Nachdem Abrahams Frau Sara gestorben war, suchte Isaak, der Stammvater der Juden, nach Hagar – sie heiratete schließlich Abraham. Und so stehen bei dessen Beerdigung Isaak und Ismael vereint zusammen.
Nach der islamischen Tradition verirrten Hagar und Ismael sich in der Wüste auf der arabischen Halbinsel bei Mekka, dem Geburtsort des Islams. Bis heute laufen die muslimischen Pilger nach der Umkreisung der Kaaba sieben Mal zwischen zwei Hügeln hin und her, in Erinnerung an die verzweifelte Suche nach Wasser. Der Koran zitiert Abraham: „Unser Herr, ich habe einige aus meiner Nachkommenschaft in einem pflanzenlosen Tal wohnen lassen, bei deinem unverletzlichen Haus, unser Herr, damit sie das Gebet verrichten. So lass Herzen unter den Menschen sich ihnen zuneigen“ (Koran 14:37).
Abraham betet mit diesen Sätzen für Hagar und Ismael, um deren Überleben er fürchten muss. Er weiß aber auch – so die islamische Tradition –, dass er sie bei den Grundfesten der Kaaba zurückgelassen hat, die Adam einst erbaut hatte. Er kann hoffen, dass sie dort zu dem einen Gott beten würden. Das klare Bekenntnis zum Monotheismus verbindet Juden und Muslime – selbst dann, wenn sie wie Isaak und Ismael nicht zusammenleben. Abraham aber hofft auf die Zuneigung der Herzen.
Der terroristische Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober war ein schweres Verbrechen, dessen Verurteilung auch aus islamisch-theologischer Perspektive eindeutig ist: Menschen zu ermorden und zu verschleppen, ist mit Religion nicht vereinbar, es ist geradezu das Gegenteil von Religion. Und der Hamas-Terror stellt auch eine schwere Bürde für die jüdisch-muslimischen Beziehungen dar: Extremisten versuchen, das Verbindende auszulöschen, das in den religiösen Traditionen verankert ist. Aus muslimischer Sicht ist es schmerzhaft zu sehen, wie die religiöse Symbolik des Islams für terroristische Angriffe missbraucht wird. Es stimmt: Juden und Muslime haben oft verschiedene Ansichten zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Aber Menschlichkeit und Respekt müssen und können auch bei unterschiedlichen Meinungen gewahrt bleiben.
Leid anzuerkennen und Empathie aufzubringen, darf angesichts des Leids der Opfer nicht gegeneinander ausgespielt werden. So können gerade viele Muslime noch einen anderen aktuellen Bezug der erwähnten Erzählung erkennen: Hagar und Ismael in der Wüste, kurz bevor ihnen das Wasser ausgeht, lassen auch an die Not unschuldiger Zivilisten in Gaza denken, die gerade ohne dringend benötigte Nahrung und medizinische Versorgung sind. Auf jüdischer Seite haben die bestialische Ermordung von Menschen und die Verschleppung der Geiseln, deren Schicksal nach wie vor unklar ist, unsägliches Leid über unschuldige Zivilisten gebracht. Dieses menschliche Leid muss verbinden, es darf niemals zu Hass führen. Der gemeinsame Gegner sind die Extremisten und Demagogen.
In Deutschland ist die Bedeutung des jüdisch-muslimischen Dialogs stetig gewachsen. Denn neben der Theologie gibt es große Gemeinsamkeiten in der Praxis: Juden und Muslime sehen sich in Debatten um Schächten, Beschneidung oder religiöse Symbole und Kleidung häufig in ähnlicher Weise betroffen. Und auch die Einsicht verbindet, dass Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus auf dieselbe menschenfeindliche Geisteshaltung zurückgehen.
Dass nun in der öffentlichen Debatte seit dem 7. Oktober Israelis und Palästinenser – und Juden und Muslime – als unversöhnliche Gegner erscheinen, ist erschreckend: Extremisten, Islamisten, AfD und andere versuchen, Minderheiten gegeneinander auszuspielen. Dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen. Angesichts der vermehrten antisemitischen Übergriffe und zuletzt auch zunehmenden antimuslimischen Anfeindungen sind jüdisch-muslimische Allianzen jetzt notwendiger denn je.
Wer seinen Platz in Deutschland hat und wer nicht, geht nicht nach Religion oder Abstammung, sondern beruht ausschließlich auf der Einhaltung der geteilten Werte des Grundgesetzes. Auf dieser Basis gilt es, den Dialog zwischen Juden und Muslimen auszubauen – für gesellschaftlichen Frieden und zum Wohle aller.