Protest gegen Justizreform Israel im Ausnahmezustand

Meinung | Tel Aviv · Massendemonstrationen und ein Generalstreik als Protest gegen die umstrittene Justizreform legen das Land lahm. Nach der Entlassung des Verteidigungsministers spielen sich in mehreren Städten chaotische Szenen ab.

Demonstranten protestieren vor dem Parlament in Jerusalem gegen die geplante Justizreform.

Foto: dpa/Ariel Schalit

Israel steht still und ist gleichzeitig in Aufruhr. Der Streit um die geplante Justizreform, mit der laut Kritikern Israels Demokratie in eine Diktatur verwandelt werden soll, erreichte am Montag seinen vorläufigen Höhepunkt. Das Land hat dramatische Stunden hinter sich – und wohl auch vor sich: Spontane nächtliche Massenproteste, Generalstreik, Sorgen vor Zusammenstößen zwischen Befürwortern und Gegnern der Reform.

Wie es weitergeht, weiß derzeit keiner. „Chaos“, sagt der Besitzer eines Cafés in Tel Aviv und zuckt halb amüsiert, halb verzweifelt seine Schultern: „Chaos. Bis es knallt.“ Andere, die Montagmittag in Tel Aviv mit Flaggen in der Hand zur Demonstration gegen die Justizreform ziehen, sind euphorischer: „Wir schreiben Geschichte!“

Und tatsächlich konnten am Abend die Regierungsgegner einen Etappensieg feiern: Regierungschef Benjamin Netanjahu kündigte einen vorübergehenden Stopp der umstrittenen Justizreform an. Israels Polizeiminister Itamar Ben-Gvir hatte zuvor mitgeteilt, er habe sich auf eine Verschiebung mit Netanjahu verständigt. Im Gegenzug soll eine „Nationalgarde“ unter der Führung des rechtsextremen Politikers eingerichtet werden. Was dies konkret bedeutet, war zunächst nicht klar. Kritiker sprachen jedoch bereits von einer steuerfinanzierten Privatarmee Ben-Gvirs. Sie äußerten die Sorge, die bewaffneten Einsatzkräfte könnten etwa brutaler gegen Demonstranten des liberalen Lagers vorgehen als die Polizei. Ben-Gvir hatte mehrfach das Vorgehen der Polizei gegen die Proteste als zu schwach kritisiert.

Ausgebrochen waren die bislang größten Proteste in der Nacht auf Montag aufgrund eines strategischen Fehlers Netanjahus – so sieht es Gayil Talshir, Politikwissenschaftlerin an der Hebräischen Universität in Jerusalem: Am Sonntagabend feuerte Netanjahu Verteidigungsminister Joav Galant, weil dieser in einer öffentlichen Ansprache die Regierung dazu aufgerufen hatte, die umstrittene Justizreform nicht ohne Dialog mit den Gegnern durchzupeitschen. Galant begründete seinen Aufruf mit Sicherheitsrisiken.

Seitdem war das Land im Ausnahmezustand. Laut Talshir war es auch ein Fehler, die Sicherheitsanalyse nicht dem Kabinett vorzustellen. „Dass Netanjahu sein eigenes Interesse, Israel in ein autoritäres Regime zu verwandeln, sogar vor Israels Sicherheit stellt, hat viele Leute auf die Straße gebracht, die bislang nicht protestiert hatten.“

Hunderttausende strömten aus Protest gegen Galants Rauswurf auf die Straßen. In Jerusalem durchbrachen Hunderte Menschen Polizeisperren und liefen auf Netanjahus Regierungssitz zu. Bis zum frühen Morgen blockierten in Tel Aviv Zehntausende die Stadtautobahn, entfachten Feuer und schwenkten israelische Flaggen. „Demokratie“, schallte es aus allen Richtungen. Erst gegen 4 Uhr löste die Polizei mit Wasserwerfern die Blockaden auf.

Am Montagvormittag kündigte Arnon Bar David, Vorsitzender des Gewerkschaftsbundes Histadrut, einen Generalstreik an. Es sei an der Zeit, den „Wahnsinn“ zu stoppen. „Die Histadrut mit ihren rund 800.000 Mitgliedern hatte bislang nicht zu den Protesten gegen die Justizreform aufgerufen. Das dürfte daran liegen, dass viele der Gewerkschaftsfunktionäre eng mit Netanjahus Likud-Partei verbunden sind. Dass sich die Gewerkschaften in politische Auseinandersetzungen jenseits von Arbeitskämpfen einmischen, ist ungewöhnlich.

Kurz nach dem Aufruf blieben die Flugzeuge am Ben-Gurion-Flughafen am Boden. Krankenpfleger, Anwälte, Lehrer traten in den Streik. Einkaufszentren schlossen. Bilder im Fernsehen zeigten Hunderttausende Demonstranten in Beerscheba, Tel Aviv und Jerusalem. Außerdem rief die Histadrut alle Staatsbediensteten auf, in den Streik zu treten, auch in diplomatischen Vertretungen Israels in aller Welt. Die Organisatoren der seit Wochen anhaltenden Demonstrationen kündigten an, die Proteste fortzusetzen: „Die Regierung hat Israel der Zerstörung nahe gebracht und sie droht immer noch, die Demokratie zu demontieren“, hieß es am Montagabend in einer Mitteilung.

Israels Opposition zeigte sich nach der Ankündigung der Aussetzung der Reform grundsätzlich gesprächsbereit. „Wenn die Gesetzgebung wirklich und vollständig gestoppt wird, sind wir bereit, einen echten Dialog in der Residenz des Präsidenten zu beginnen“, teilte Oppositionsführer Jair Lapid am Abend mit. Der frühere Verteidigungsminister Benny Gantz teilte mit, er werde die Verhandlungen mit einem „offenen Herzen“ aufnehmen. „Besser spät als nie.“ Gleichwohl dankte er den Demonstrantinnen und Demonstranten für ihren Kampf, der „noch nicht vorbei“ sei. (mit dpa)