Lehrermangel in Deutschland Warum niemand mehr unterrichten will

Analyse | Düsseldorf · Der Lehrermangel in Deutschland wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Experten sagen, der Beruf ist nicht attraktiv. Dabei läuft schon vieles in der Ausbildung falsch.

In einer Klasse fällt die erste und zweite Unterrichtsstunde aus. Durch Krankheitsfälle, aber auch den Lehrermangel ist diese Situation an vielen Schulen üblich.

In einer Klasse fällt die erste und zweite Unterrichtsstunde aus. Durch Krankheitsfälle, aber auch den Lehrermangel ist diese Situation an vielen Schulen üblich.

Foto: dpa/Caroline Seidel

Schon bei der genauen Zahl der fehlenden Lehrkräfte gehen die Schätzungen weit auseinander. 12.000 Stellen, davon allein 8000 in NRW, sagen die Kultusministerien. Zwischen 32.000 und 40.000, behauptet der Deutsche Lehrerverband. „In den vergangenen Jahren wurde es versäumt, genügend Lehrkräfte auszubilden und einzustellen. Seit den frühen 2000er-Jahren war abzusehen, dass wir in NRW angesichts des demografischen Wandels in einen großen Unterhang geraten“, meint Sabine Mistler, Vorsitzende des Philologenverbandes (PHV) NRW. Der vermehrte Flüchtlingszuzug, allein 40.000 neue Schüler in NRW seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs, und gleichzeitig eine sinkende Zahl junger Menschen, die ein Lehramtsstudium beginnen, komme hinzu. Tatsächlich liegt laut Statischem Landesamt im Wintersemester 2022/23 die Zahl der Studienanfängerinnen und Studienanfänger für ein Lehramt an den NRW-Hochschulen um mehr als 15 Prozent niedriger als zwei Jahre zuvor. Waren es 2020/21 Jahre noch 10.300 Anfänger, schrumpfte dieses Zahl im laufenden Wintersemester auf nur noch 8703.

„Die Arbeitsbedingungen sind deutlich schlechter geworden, viele potenzielle Lehrkräfte entscheiden sich lieber für ein außerschulisches Berufsleben“, sagt Mistler. Der Verband Bildung und Erziehung sieht das Hauptverschulden bei der Landespolitik, die nicht rechtzeitig auf den Mangel reagiert habe. „Leider wurde jahrelang versäumt, valide Personalbedarfsprognosen zu erstellen. Auf die Hinweise aus den Schulen und Verbänden wurde nicht reagiert“, stellt ein Verbandssprecher fest. Den Beruf wieder attraktiver machen, sei jetzt zentral, sagen die Lehrerverbände. Mehr Studienplätze an den Hochschulen müssten geschaffen, aber auch Belastungen im Beruf reduziert werden.

Doch so einfach ist es nicht. Mehrere unter den Kultusministern diskutierte Veränderungen sind umstritten, darunter auch der Plan, Teilzeitmodelle für Lehrer einzuschränken. So arbeiten mehr als 40 Prozent der 709.000 Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland laut Statistischem Bundesamt in Teilzeit – der höchste Stand der vergangenen zehn Jahre. Doch die Entscheidung zur Teilzeit soll künftig nur noch unter bestimmten Bedingungen möglich sein. „Die voraussetzungslose Teilzeit zu beschneiden, ist aus unserer Sicht absolut kontraproduktiv: Zum einen können damit – wenn überhaupt – nur kurzfristige Bedarfe abgedeckt werden. Mittel- und langfristig wird der Lehrermangel aber noch verschärft“, sagt Mistler. Schon jetzt würden Lehrkräfte den Schuldienst verlassen, die jüngste Entwicklung könnte also eine neue Entwicklung entfachen. Auch die Vergrößerung der Klassen ist eine Idee der Kultusminister. Keine guten Aussichten für bereits jetzt überlastete Lehrende.

Dabei überbieten sich Politiker und Politikerinnen in Vorschlägen, den Mangel zu beseitigen. Vergangenes Jahr sorgte die damalige NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) für eine Kontroverse, als sie vorschlug, den Numerus Clausus für Lehramtsstudierende abzuschaffen. Die Hochschulen blockten prompt mit dem Verweis auf verwaltungstechnischen Mehraufwand und fehlendes Personal. Drei Viertel aller Bundesländer setzen auf Quer- und Seiteneinsteiger und verkürzen die Zulassungsverfahren. Und ein Beratergremium der Kultusministerkonferenz sprach sich dafür aus, Abschlüsse ausländischer Lehrer leichter anzuerkennen. Die Resultate sind allerdings teils noch dürftig. Im Dezember 2022 legte das NRW-Schulministerium ein Handlungskonzept vor, dass vorsieht, mehr Lehrer einzustellen, aber unter anderem auch Dienstrecht und Wertschätzung des Berufes verbessern will. „So sollen zur Entlastung von Lehrkräften vor allem in Grundschulen zum Beispiel Alltagshelferinnen und Alltagshelfer eingestellt werden. Kurz- und mittelfristig sollen die Schulen unter anderem auch mehr Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger einstellen können, um die Unterrichtsversorgung zu verbessern“, sagt Schulministerin Dorothee Feller (CDU) unserer Zeitung auf Anfrage. So unterschiedlich die Vorschläge auch sind, in einem Punkt sind sich alle Kultusminister einig: Es muss mehr Nachwuchs für den Beruf begeistert werden. Doch nicht nur am Berufsbild Lehrer verbessern sie bisher zu wenig.

Denn ein anderer Aspekt kommt regelmäßig zu kurz: die Qualität der Ausbildung selbst. Eine Umfrage der Landeselternschaft der Gymnasien NRW zeigte kürzlich, dass lediglich elf Prozent der befragten Abiturientinnen und Abiturienten sich für ein Lehramtsstudium entscheiden würden, fast 46 Prozent schließen es aus. Ob man Lehrer werden möchte, hängt sicher auch von den eigenen Erfahrungen in der Schule ab und der Vorstellung, wie der Beruf später einmal sein wird. Aber auch die Attraktivität des Studiums beeinflusst die Entscheidung der jungen Erwachsenen. Viele Fakten dürften dagegen sprechen.

Eine Masterstudentin an der Uni Köln im Lehramt, die anonym bleiben will, sieht das Studium trotz der später guten Einstellungsmöglichkeiten als langen steinigen Weg an, der so manchen „abschrecken oder zum Abbruch des Studiums verleiten könnte“. Finanziell sei das Studium schwer zu stemmen, nicht nur wegen teurer Pflicht-Auslandsaufenthalte, sondern auch wegen monatelanger, häufig unbezahlter Praktika in Schulen. In der Zwischenzeit könne man für den Lebensunterhalt nicht mehr jobben gehen. Auch bereite das Studium nicht ausreichend für den Schuleinsatz vor. „Man macht immer mehr die Erfahrung an Schulen, dass der Bildungsauftrag mittlerweile vom Erziehungsauftrag überlagert wird“, sagt die 28-Jährige. Soziale Konflikte aus dem Elternhaus und Hyperaktivität mancher Schüler seien zunehmend auch im Schulalltag zu klären. Nicht nur pädagogisch, sondern auch psychologisch geschult und belehrend müsse man sein.

Studierende müssen enorm viel stemmen. Und deshalb brechen sie ihr Lehramtsstudium immer häufiger ab. Von neun Prozent Abbruchquote für den geplanten Abschluss 2018 stieg die Zahl im Masterstudium Lehramt auf 16 Prozent für das Endjahr 2020. Für Bachelorstudierende stieg die Abbrecherquote von 20 auf 21 Prozent. Die Werte stellen zwar nur Schätzungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) dar, die sicherlich auch durch die Corona-Pandemie beeinflusst wurden. Doch auch nach Daten des Statistischen Bundesamts für 2021 sank die Zahl der Absolventen mit Masterabschluss oder erstem Staatsexamen im Zehnjahresvergleich um rund 14 Prozent, auch wenn zumindest in NRW laut hiesigem Wissenschaftsministerium die Zahl der Lehramtsstudierenden im selben Zeitraum stieg.

Das Lehramtsstudium scheint im Abstieg begriffen zu sein. Die Kölner Studentin kritisiert die universitäre Ausbildung, die oft den Fokus auf wissenschaftliche Arbeitsmethoden lege, anstatt die Eignung zum Lehramt mit Praxisbezug zu fördern. Auch die hohe Zahl von Prüfungsleistungen in mündlicher und schriftlicher Form sei belastend. Und durch die föderale Struktur der Bildungslandschaft unterscheide sich die Ausbildung von Uni zu Uni und von Bundesland zu Bundesland, was Seiteneinstiege nach dem Uniwechsel erschwere.

Die Theorie- und Praxisanteile sind in den Augen vieler Beobachter schlecht ausbalanciert. „Die Lehrerbildung leidet generell unter dem Trend der Verschulung. Curricula vermitteln Wissen zu wissenschaftlichen Themen, das Praktische und Fachdidaktische gerät dabei in den Hintergrund“, moniert Heiner Barz, Bildungsforscher an der Uni Düsseldorf. Und der ehemalige Berliner Staatssekretär für Bildung, Mark Rackles, sagte der „Berliner Zeitung“, das Studium sei trocken und praxisarm, erst spät komme der „Praxisschock“. Lehrkräfte treten viel zu spät vor die Klasse und brechen ihre Ausbildung schon mal ab, wenn dies schlecht funktioniert. Auch die Anforderungen und Dauer des Studiums kritisieren Rackles und andere Bildungsforscher häufig. Wer etwa Mathematik oder Physik auf Lehramt studiert, hat dieselben Anforderungen und sitzt in denselben Kursen wie ein regulärer Student in diesen Fächern. Da liegt es nahe, dass man sich lieber einen besser bezahlten Job in der Wirtschaft sucht, als weiter im Lehramt zu bleiben.

Der Bildungsforscher und Koordinator der Pisa-Studien, Andreas Schleicher, sieht das Hauptproblem hingegen weniger im Studium, sondern mehr in der kreativen Freiheit, die Lehrern gewährt werde. Bei der Attraktivität des Berufes gehe es nicht um Geld, schließlich bezahle nur Luxemburg in Europa seine Lehrer besser als Deutschland. „Einfache Rezepte wie Gehälter erhöhen, Klassen verkleinern, oder Stundendeputate verringern, greifen nicht“, sagt Schleicher. Die Art der Lehrmodelle, die in Deutschland vorherrschen, nämlich Unterrichten nach Vorschrift, bringe keine kreativen Lehrenden hervor. “Fragt man Lehrer, die mit ihrem Beruf zufrieden sind, was ihnen am wichtigsten ist, sind die häufigsten Antworten die Qualität der Beziehungsarbeit, das Arbeiten im Team sowie Gestaltungsfreiraum und Eigenverantwortung“, argumentiert er. Die Lehrer sollten also mehr professionelle Autonomie haben, aber auch mehr untereinander kooperieren dürfen.

Ob in der Ausbildung an der Uni oder schon mitten im Klassenraum: Die Defizite des Lehrerberufs sind vielschichtig und hängen oft zusammen. Wer im Studium schon unzufrieden ist und Mängel in der Ausbildung erfährt, wird diese Probleme in die Schule verschleppen. Damit dies künftig nicht passiert, müssen die Bedürfnisse an den Schulen von den universitären Ausbildern klarer erkannt und erfüllt werden. Dabei braucht es aber auch Unterstützung der Politik. Es ist an den Kultusministerien, Studieninhalte der Lehrerausbildung und Schule besser zu verzahnen.

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