Deutschlands Krisenstimmung verflüchtigt sich Noch mal Schwein gehabt
Analyse · Die deutsche Wirtschaft präsentiert sich mitten in der Krise in überraschend robuster Verfassung. Dafür gibt es gar nicht so überraschende Gründe.
Es ist schon etwas Besonderes, wenn der einflussreiche Chef der Bundesnetzagentur mal über etwas Anderes als die Notlage an den Strom- und Gasmärkten redet. Vor einigen Tagen führte Klaus Müller beredt Klage über den mangelnden Netzausbau der Mobilfunkkonzerne. Fast Business as usual, nachdem der alerte Volkswirt sonst nur über mögliche Szenarien einer Gasmangellage oder die Füllstände der Gasspeicher berichtete.
Tatsächlich ist es zurzeit eher ruhig an dieser Front. Der Speicherstand lag am Montag bei guten 85,9 Prozent. Und das am Ende des statistisch kältesten Monats im Jahr. Und selbst wenn die niedrigen Temperaturen in diesen Tagen einen Mehrverbrauch erwarten lassen, gilt die deutsche Versorgungslage als stabil – genauso wie die der Nachbarländer und auch die Bereitstellung von Gas über die Weltmärkte. Um gut ein Drittel liegt der Verbrauch von Gas in Deutschland unter dem Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021. Und die Chancen stehen gut, dass im April am Ende der Heizperiode die Speicher immer noch zu 60 bis 70 Prozent gefüllt sind. Die gesetzlich vorgeschriebenen 40 Prozent zu Beginn des Februars sind nicht mehr zu verfehlen. „In diesem Winter geht nichts mehr schief“, ist der derzeitig wichtigste Behördenchef Müller überzeugt.
Die Situation hat sich entspannt. Um fast zwei Prozent ist im Kriegsjahr 2022 die deutsche Wirtschaft gewachsen, eine Zahl, der deutlich über dem Mittelwert der vergangenen Jahre von einem Prozent liegt. Tatsächlich wurden in Deutschland noch nie so viele Güter und Dienstleistungen produziert wie im vergangenen Jahr. Das Vor-Corona-Niveau ist längst wieder erreicht. Zwar erwarten viele Experten im ersten Quartal des laufenden Jahres eine leichte Eintrübung der Konjunktur. „Ein kleines Plus ist im ganzen Jahr durchaus möglich, selbst im Winterquartal,“ meint Torsten Schmidt, der beim RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen für die Prognosen zuständig ist. Auch die Bundesregierung hat ihre Schätzung für 2023 leicht angehoben. Statt Rezession erwartet sie nun Stagnation. Im kommenden Jahr soll die Wirtschaft mit 1,8 Prozent kräftig wachsen. Die Deutsche Bank geht sogar schon 2023 von einem geringen Wachstum von 0,5 Prozent aus. Schließlich seien die Energiepreise stark gesunken, und der Stau der Schiffe bei den Containerhäfen Chinas würde sich langsam auflösen.
Auch sonst gibt es derzeit mehr Licht als Schatten. Der Börsenindex Dax der 40 wichtigsten Werte ist seit Ende September um mehr als 3000 Punkte angestiegen und liegt beharrlich über dem Spitzenwert von 15.000. Positiv sind auch der Konjunkturindex des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), der Ifo-Geschäftsklimaindex sowie das Dienstleistervertrauen und das Konsumklima. „Die Verbraucher haben sich sehr konjunkturstabilisierend verhalten“, lobt der Essener Wirtschaftsforscher Schmidt, der auch bei den anderen Krisen eher optimistisch ist: „Die Entspannung zeigt sich auch bei den Frachtraten und Lieferketten. Die Auftragsbestände können derzeit zügig abgearbeitet werden.“
Viele Unternehmen haben es überraschend gut geschafft, mit den Widrigkeiten an den Energiemärkten fertig zu werden. Zwar rechnen energieintensive Branchen wie die Papier-, und Metallhersteller sowie die Chemische Industrie mit Produktionseinbußen, die Bauindustrie sogar mit einem richtigen Einbruch. Deshalb werden sie auch einen Teil der Produktion ins Ausland verlagern, wo die Energiepreise günstiger sind. Das wichtige Ammoniak produziert der Chemieriese BASF nur noch in Übersee. Aber viele vor allem mittlere und kleine Unternehmen berappeln sich derzeit. „Die deutsche Wirtschaft ist sehr flexibel“, meint der Konjunkturforscher Schmidt. Und der Chef des Essener Chemiekonzerns Evonik Industries vergibt sogar das Prädikat „Weltklasse“ für die deutschen Hersteller.
Dazu passt, dass der Arbeitsmarkt äußerst robust bleibt. Mit 45,5 Millionen Erwerbstätigen ist die Beschäftigung in Deutschland auf einem neuen Rekordstand. In der Industrie wuchsen die Belegschaften um 1,2 Prozent im vergangenen Jahr. Mit 5,5 Millionen Beschäftigten gibt das Verarbeitende Gewerbe, die Herzkammer der deutschen Wirtschaft, heute mehr Menschen Arbeit als im Jahr 1991 kurz nach der Vereinigung (5,4 Millionen).
Der konsequente Kurs der Europäischen Zentralbank (EZB), der gerade vom Präsident der Bundesbank, Joachim Nagel, befeuert wird, könnte auch die Inflation im laufenden Jahr besser unter Kontrolle bringen. So hat sich der Zuwachs der Erzeugerpreise, ein vorauslaufender Indikator für Preissteigerungen, halbiert. Mit 25 Prozent im Dezember 2022 ist er noch immer zu hoch, aber im August lag er bei mehr als 45 Prozent. Für die Inflationsrate erwarten die Konjunkturexperten der Deutschen Bank noch lediglich 5,8 Prozent für die Eurozone, im kommenden Jahr wird sie unter der EZB-Zielmarke von zwei Prozent liegen. Nach Berechnungen des Bundeswirtschaftsministerium wird die Preissteigerungsrate in Deutschland ebenfalls bei rund sechs Prozent liegen, bevor sie auch hier 2024 auf unter drei Prozent zurückgeht.
Selbst Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) kann sich über bessere Zahlen freuen. Die gute Konjunktur hat das Defizit des Bundes um 23,5 Milliarden Euro gedrückt. Nach dem Rekordjahr 2021 (Minus: 215 Milliarden Euro) sind es jetzt noch 115 Milliarden Euro. Der Chefhaushälter der Bundesregierung hat gute Chancen, die Schuldenbremse schon in diesem Jahr einzuhalten, auch wenn er etliche Ausgaben etwa für Rüstung oder die Stabilisierung der Gas- und Strompreise elegant ausgelagert hat.
Die Ampel-Koalition hat sicher nicht immer eine glückliche Hand bei der Krisenbewältigung gezeigt. Der Flop der Gasumlage, die Hilfen nach dem Gießkannenprinzip bei der Stabilisierung der Energiepreise oder der Tankrabatt spülten oft Milliarden in die falschen Taschen. Aber die energischen Maßnahmen, die Energieversorgung zu sichern, haben Erfolg gezeigt. Es ist eine Politik mit Licht und Schatten. Derzeit überwiegt eher das Licht.