Ex-Kommissionspräsident Barroso „Wir haben das Recht, unsere Grenzen zu schützen“

Interview · Der frühere portugiesische Ministerpräsident José Manuel Barroso stellt Deutschland ein hohes Lob für seine Ukraine-Politik aus. Über die Dauer des Krieges macht er sich keine Illusionen. Und er befürwortet die Haltung der Europäischen Union gegen illegale Migration.

 Der frühere Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, beim Besuch in der Kaiser-Friedrich-Halle in Mönchengladbach.

Der frühere Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, beim Besuch in der Kaiser-Friedrich-Halle in Mönchengladbach.

Foto: bauch, jana (jaba)

Der frühere EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso war Anfang Juni zu Gast beim Initiativkreis Mönchengladbach, einer Unternehmerorganisation, die internationale Prominente in die einstige Textilstadt bringen will. Der portugiesische Politiker stellte sich vor seiner Rede in der Kaiser-Friedrich-Halle den Fragen unserer Redaktion.

Der Bruch des Kachowka-Staudamms bedeutet eine neue Dimension des Schreckens im Ukraine-Krieg. Passt das zur Kriegsführung von Kremlchef Putin?

Barroso Ich bin kein Militärexperte. Aber ich habe Wladimir Putin so oft getroffen wie keinen anderen Staatslenker außerhalb der Europäischen Union. Und eines weiß ich von unseren vielen Begegnungen. Putin ist niemand, der etwas akzeptiert, das so aussieht wie eine Niederlage. Der Krieg, den der Kremlchef ohne Zweifel begonnen hat, wird deshalb wohl noch lange dauern.

Trauen Sie ihm eine solche Tat wie die Sprengung eines Staudamms zu?

Barroso Eindeutig ja.

Können Sie das genauer ausführen?

Barroso Ich erzähle Ihnen eine Begegnung mit Putin im Zusammenhang mit einem riesigen Leck bei der Druschba-Ölpipeline, die bekanntlich unter dem Namen „Freundschaft“ in den Westen führt. Die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel und ich fragten Putin, was passiert sei. Er gab indirekt zu, dass russische Kräfte die Pipeline zerstört hätten. Nach außen erklärte die russische Regierung, es wäre ein Unfall gewesen. Die Russen haben eine Tradition der Sabotage. Und das war zu Friedenszeiten. Jetzt gibt es Krieg in der Ukraine.

Hätten Sie vor dem Einmarsch der Russen geglaubt, Putin würde die Ukraine in dieser Weise angreifen?

Barroso Ich war davon überzeugt, dass Putin die Ukraine weiter destabilisieren würde. Aber einen so vollständigen Angriff hatte ich nicht erwartet. Es war ein so großer Fehler, selbst aus seiner kriminellen Sicht, dass ich nicht daran geglaubt habe. Es ist eine Tragödie, in erster Linie für die Ukraine. Es ist aber auch eine Tragödie für Russland. Jeden Tag sterben Menschen, Ukrainer wie Russen. Auch wenn ich das Schicksal beider Länder nicht auf eine Stufe stellen will. Russland ist klar der Angreifer, die Ukraine das angegriffene Land.

Muss die Ukraine den Krieg gewinnen oder lediglich ihr Territorium verteidigen?

Barroso Eine interessante Frage. Eines vorneweg: Mein Herz schlägt für die Sache der Ukraine. Aber wir müssen eines Tages den Frieden erreichen. Und dafür wird ein Kompromiss nötig sein. Es wird nicht möglich sein, dass eine der beiden Parteien den Krieg vollständig gewinnt.

Geht es ohne territoriale Zugeständnisse der Ukraine?

Barroso Diese Frage kann und will ich nicht beantworten. Aber eines ist klar: Die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine stehen außer Frage. Nicht einmal China will, dass die Ukraine Teil Russlands wird.

Liefert der Westen genügend Waffen in die Ukraine?

Barroso Von einem militärischen Standpunkt heraus kann ich das nicht entscheiden. Aber die Ukraine hat das Recht, alle Waffen zu fordern, die es zu seiner Selbstverteidigung benötigt. Die Nato, der mein Land Portugal angehört, ist aber nicht im Krieg mit Russland. Das ist die falsche Propaganda des Kremls.

Insbesondere dem deutschen Kanzler Scholz wurde vorgeworfen, zu zögerlich bei den Waffenlieferungen zu sein. Stimmen Sie dem zu?

Barroso Ich kenne nicht alle Details der deutschen Debatte. Von außen kann ich nur sagen: Ich bewundere die deutsche Haltung. Deshalb finde ich die Kritik an der deutschen Position im Ukraine-Krieg völlig unfair. Man darf niemals vergessen, dass die Sowjetunion ein Opfer der Nazi-Diktatur in Deutschland war. Und sie erlitt die größten Opfer im Krieg. Eine vorsichtige Haltung der Deutschen ist also nur verständlich.

Aber im Ukraine-Krieg geht es um die Hilfe für ein angegriffenes Land?

Barroso Deutschland unterstützt die Ukraine wie sonst kaum ein anderes Land. Die Bundesrepublik ist der zweitwichtigste Geldgeber. Kanzler Scholz hat die Pipeline Nordstream II aufgegeben und eine dramatische Kehrtwende in der deutschen Politik vollzogen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Grünen-Politiker, die jetzt in der Regierung sitzen, gegen jede Aufstockung der Verteidigungsetats waren. Deutschland verdient nicht die Kritik, die das Land vor allem in den angelsächsischen Medien erfährt.

In Europa wird derzeit hart um ein neues Asylrecht gerungen. Kritiker sagen, die Abwehr von Flüchtlingen an der Grenze verletze Menschenrechte. Teilen Sie diese Ansicht?

Barroso Ich kenne die jetzigen Vorlagen nicht im Detail. Aber ich habe als Kommissionspräsident das Leid der Menschen gesehen, die vor der Insel Lampedusa gestrandet sind. Hunderte Koffer auf dem Meer, nachdem ein Boot gesunken war. Das hat mich tief geprägt. Das müssen wir auf jeden Fall verhindern.

Jetzt sollen die Menschen in Lagern vor der gemeinsamen Grenze auf ihr Verfahren warten. Macht das die Sache besser?

Barroso Die Europäische Union braucht eine gemeinsame Linie. Und wir müssen in jedem Fall die Genfer Flüchtlingskonvention einhalten. Aber es gibt neben der humanitären Hilfe für verfolgte Flüchtlinge auch die illegale Migration. Kurz gefasst: Unsere Tore müssen offen sein, aber nicht völlig offen. Wir haben das Recht, unsere Grenzen zu schützen.

Hält das Dublin-Abkommen noch?

Barroso Nein. Wir müssen es revidieren und für einen fairen Kompromiss bei der Aufnahme der Flüchtlinge sorgen.

Nächstes Jahr wählt die Bevölkerung der EU ein neues Parlament. Ist das eine Mogelpackung, wenn die Regierungschefs wieder den Kommissionspräsidenten am Parlament vorbei auskungeln?

Barroso Zunächst einmal: Der Kommissionspräsident wird vom EU-Parlament gewählt. Das ist ein demokratischer Vorgang. Ob es immer automatisch einer der Spitzenkandidaten sein muss, ist eine andere Frage. Ich war formal der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) und wurde so wiedergewählt. Aber im Endeffekt ist es in Brüssel so wie in vielen EU-Staaten. Das Parlament wählt den Regierungschef. Da ist nichts Anstößiges dabei.

Sollte Ursula von der Leyen als Spitzenkandidatin der EVP ins Rennen gehen?

Barroso Sie hat eine hervorragende Arbeit geleistet. Es ist ihre Entscheidung. Ich würde sie unterstützen, wenn sie antritt.

War es ein Schlag für die europäischen Institutionen, als der Bestechungsskandal um die Parlaments-Vizepräsidentin Eva Kaili ans Licht kam?

Barroso Der Skandal ist schrecklich, aber es ist kein Schlag gegen unser europäisches Haus. Korruptionsskandale gibt es in allen nationalen Parlamenten, auch in Deutschland. Und wir schaffen diese Einrichtungen deswegen nicht ab.

Sind 14 Vizepräsidenten und -präsidentinnen für das EU-Parlament nicht zu viele?

Barroso Das sind zu viele. Aber solche Zahlen sind das Ergebnis eines Kompromisses. Die kleinen Staaten wollen auch vertreten sein. Und bevor Sie fragen: 27 Kommissare sind sicherlich auch zu viel. Aber ich halte an der Regelung fest, dass jedes Land einen Kommissar stellen sollte. Nur so gelingt es, den europäischen Gedanken in alle Mitgliedsstaaten zu tragen. Die Sprache Europas, so hat es der italienische Intellektuelle Umberto Eco gesagt, ist die Übersetzung.

Sie bezeichnen sich als überzeugten Europäer. Warum haben Sie als Berater von Goldman Sachs der britischen Regierung beim Brexit geholfen?

Barroso Ich habe meinem Land Portugal und der Europäischen Union lange Zeit gedient. Als freier Privatmann kann ich eine Mitarbeit bei einem großen Unternehmen annehmen. Die britische Regierung habe ich zu keiner Zeit in Sachen Brexit beraten. Das ist schlicht falsch. Egal, was geschrieben wurde.

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