Kampf gegen den Terror Der Mythos von Israels Unbesiegbarkeit bröckelt

Analyse · Die Spezialeinheiten der israelischen Armee im Kampf gegen den Terrorismus radikalislamischer Palästinenser sind legendär. Doch die Erfolge der Vergangenheit taugen nur bedingt für die Zukunft.

Rauch steigt auf, nachdem die israelische Luftwaffe Gaza-Stadt als Vergeltung für die Terrorattacken der Hamas angegriffen hat.

Foto: AP/Hatem Moussa

Ein Albtraum wiederholt sich. Fast auf den Tag genau vor 50 Jahren überraschten Ägypten und Syrien Israels Nation am Jom Kippur, dem höchsten Feiertag Israels. Damals schätzten die Sicherheitsdienste die Lage trotz vorliegender Erkenntnisse falsch ein. Fünf Jahrzehnte später, am 7. Oktober 2023 initiierte die radikalislamistische Terrororganisation Hamas aus dem Gazastreifen einen Generalangriff auf den jüdischen Staat. Und auch diesmal waren Nachrichtendienste und Armeeführung „blind“. Der Angriff wurde trotz Israels scheinbar perfekter Sicherheitssysteme nicht erwartet und vorher aufgeklärt.

Umso tiefer sitzt der Schock. Der Mythos perfekter Aufklärung ist zerbrochen. Denn in einer professionell vorbereiteten koordinierten und lange strategisch-taktisch geplanten und geübten Kommandoaktion überwanden Hunderte Terroristen zu Wasser, in der Luft und am Boden die israelischen Sicherheitssysteme am Gazastreifen, stürmten in Städte, Dörfer und Siedlungen im Süden Israels, töteten wahllos Zivilisten und griffen das Hauptquartier der israelischen Armee (IDF) am Gazastreifen an und töteten Kommandeure von Eliteeinheiten wie der Nahalbrigade oder der Golani-Truppe. Die Terroristen verschleppten fast 100 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen. Das ganze Szenario begleitet von einem Raketenhagel auf Israel. Etwa 1200 Israelis werden getötet, genauso viele Palästinenser im Gazastreifen durch israelische Gegenoffensiven.

Israel massiv aus Gazastreifen angegriffen
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Nahostkonflikt eskaliert – Hamas greift Israel an

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Foto: dpa/Ariel Schalit

Seit seiner Gründung kämpft Israel mit Terror und Gewalt. Terroristen der Hamas, der Islamische Dschihad aus dem Gazastreifen oder die Hisbollah aus dem Libanon operierten in der Regel als Einzeltäter mit der Bombe, der Suizidoperation, mit Autos oder Messern oder feuerten mit Raketen auf Israel wie die Hamas. Jetzt ist die Terror-Guerilla Hamas zum offenen Krieg übergegangen. Möglich gemacht hat das der Iran, die Anlehnungsmacht militanter Palästinenser. Denn die jüngsten „Erfolge“ der Terroristen basieren auf Know-how, Drill und Finanzen des Mullah-Regimes, das den Terror-Kommandos großzügig vermittelt wurde. In Trainingslagern im Libanon oder im Lande selbst unterrichten Experten der iranischen Revolutionsgarden Strategie und Taktik des Guerillakrieges. Nach dem Coup der Hamas aus Gaza droht Israel mittelfristig eine zweite Front im Norden durch die hochgerüstete Hisbollah-Miliz aus dem Libanon. Zudem befürchten Experten die Wiederaufnahme einer dritten Intifada in der Westbank.

Während Israels Sicherheitsdienste im Gazastreifen völlig überrascht wurden, scheint der Überblick im Westjordanland wirksamer zu sein. Andererseits wird der Überfall auf Israel den radikalen Islamisten auf der Westbank neuen Motivationsschub geben. Denn die Westbank kocht schon seit Langem. Fast täglich kommt es in den seit 1967 von Israel besetzten Regionen des Westjordanlandes zu Operationen der israelischen Armee gegen palästinensische Terroristen. Es gibt Schießereien, Gewaltexzesse. Razzien der israelischen Armee sind an der Tagesordnung. Israels Antiterror-Experten registrieren besonders unter palästinensischen Jugendlichen eine zunehmende Gewaltbereitschaft. Denn die junge Generation der Palästinenser wirft angesichts wachsender Perspektivlosigkeit traditionelle Normen über Bord – der Respekt vor dem Patriarchat wackelt. Die politische Führung in Ramallah unter dem greisen Präsidenten Mahmud Abbas gilt ihnen als korrupt und als „Kollaborateur“ der Israelis. Die neuen Helden der palästinensischen Jugend sind die Toten im Widerstand gegen die israelischen Streitkräfte, zum Beispiel die Selbstmordattentäter.

Die jungen Protestler nennen sich „Löwengrube“ oder geben sich andere symbolische Namen. Die Kampfgruppen sind oft nicht mehr als 40 bis 50 Mitglieder stark. Es gibt keine Führer oder eine klare Ideologie. Kommandostrukturen traditioneller Art existieren ebenfalls nicht. Verbale Unterstützung erhalten die aufbegehrenden Jugendlichen von den etablierten Terrorgruppen Hamas aus dem Gazastreifen oder dem Islamischen Dschihad. Diese neue Jugendbewegung breitet sich überall in der Westbank aus. In den nördlichen Städten Jenin, Nablus und Talkarem bis hinunter nach Hebron im Süden. Die „Löwen“-Bewegung entwickelt sich langsam zu einer beherrschenden Kraft. Besonders die Stadt Jenin gilt den israelischen Fachleuten als Hotspot des Terrors. Selbst die abgezockten Profis des israelischen Geheimdienstes Shin Beth haben Probleme, verwertbare Erkenntnisse über die kleinen und lose organisierten Terrorgruppen zu erhalten. Und diese scheuen zunehmend die offene Konfrontation mit den überlegenen Israelis nicht. Statt wie so oft Steine und Brandsätze gegen anrückende Truppen zu werfen, wird jetzt geschossen. Ausgerüstet mit M-16 Sturmgewehren wagt man den Feuerkampf. Die Waffen werden entweder aus Jordanien geschmuggelt oder von israelischen Militärbasen gestohlen.

Israels Armee geht mit aller Härte gegen den Widerstand vor. Bei einer Antiterror-Razzia Anfang März in der Stadt Nablus gegen Führungsmitglieder der dortigen „Löwengrube“ wurden zehn Mitglieder der Gruppe getötet. Das israelische Vorgehen als Reaktion auf Terrorangriffe wird taktisch und operativ von einem kombinierten Vorgehen von Geheimdiensten, Spezialeinheiten der Armee und der Grenzpolizei geprägt.

In der Geschichte der Armee Israels hat seit ihrer Gründung immer ein wesentliches Momentum die Lage bestimmt: Aufklärung – Intelligence – Gewinnung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse über den Gegner. Ob in den regulären Kriegen gegen seine arabischen Nachbarn oder gegen Guerillas und Terroristen – immer profitierte der Staat von seiner exzellenten Geheimdienst- und Aufklärungsarbeit. Dabei stützt sich der jüdische Staat auf den legendären Auslandsgeheimdienst Mossad, den Inlandsdienst Shin Beth (Schabak) sowie den militärischen Abschirmdienst Aman. Alle diese Organisationen haben anscheinend beim großangelegten Angriff der Hamas versagt.

Operativ der schwierigste Job für Israels Sicherheitskräfte ist die Verfolgung, Festnahme oder Tötung palästinensischer Terroristen in den Regionen des besetzten Westjordanlandes. Dabei spielt der Inlandsgeheimdienst Shin Beth die erste und wichtigste Rolle. Bevor das Militär in die offene Konfrontation mit bewaffneten Terroristen eintritt, arbeiten die Undercover Agenten des Shin Beth. Sie haben ein Netz von Informanten über das Westjordanland gelegt. Diese sammeln die Infos über Fluchtwege oder Verstecke von Terroristen oder kennen geheime Waffenlager und Sprengstoffdepots zum Beispiel in den Flüchtlingslagern. Das Gesamtbild der nachrichtendienstlichen Aufklärung und ihre Auswertung ist das Kernelement für die anschließende Operation. Danach kommen die Undercover-Spezialisten der israelischen Grenzpolizei und des Militärs ins Spiel. Bei den Grenzpolizisten handelt es sich um die Antiterror-Einheit Yamam. Sie ist mit ihrer deutschen Partnereinheit, der GSG 9, besonders eng verbunden.

Die Eliteeinheit der israelischen Armee für Operationen im Untergrund ist die Duvdevan- Einheit. Die Duvdevan-Soldaten sind eine der geheimsten Gruppen der Armee. Extrem hart ausgebildet, in ihrem Habitus, in der arabischen Sprache, in ihrem Verhalten leben sie unter der arabischen Bevölkerung „wie ein Fisch im Wasser“. Sie kennen oft jeden Winkel in den Flüchtlingscamps. Ihre Fahrzeuge – mit unsichtbarer Panzerung – tragen palästinensische Kennzeichen. Sie kennen die Shops, die Maßnahmen der palästinensischen Lager-Sicherheit, die einheimischen Familien und wissen oft sogar, wer gerade wen geheiratet hat. Die Duvdevan-Experten sind die geheime Speerspitze jeder Antiterror-Operation. Ihre Waffen tragen sie verdeckt. Die Identität der Duvdevan-Einheit ist komplett „arabisch“. Eine Elite für absolute Untergrundarbeit.

Wenn die verdeckte Mission der Israelis beendet ist, die geflüchteten Terroristen lokalisiert sind, beginnt die offen geführte Operation der IDF. Soldaten in Uniform besetzen getarnte Fahrzeuge. Agenten des Shin Beth geben technische Unterstützung und begleiten die Aktion. Das finale Stadium der Operation beginnt. Alles muss schnell gehen, denn die Gesuchten könnten entkommen und einen Gegenangriff planen. Das Finale einer solchen Jagd auf Terroristen sieht einen massiven Einsatz israelischer Kommandos in gepanzerten Fahrzeugen vor, die Abriegelung ganzer Straßenviertel in palästinensischen Städten oder das Durchkämmen des Gebiets in Flüchtlingscamps, um Flucht und bewaffneten Widerstand zu verhindern.

Aber nicht nur die geheimen und offenen Operationen prägen das tägliche Bild in den Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern der Westbank. Auch Palästinenser haben inzwischen Israels Methoden erkundet und versuchen, Gegenmaßnahmen zu treffen. Kameras wurden an neuralgischen Punkten in den Städten und Lagern installiert. Zufahrten zu den Flüchtlingslagern zum Teil mit LKWs blockiert. Undercover-Aktionen der Israelis wurden entdeckt, gefilmt und in die sozialen Netze gestellt. Wie groß die Angst und Furcht vor den Geheimagenten der Israelis besonders in den Flüchtlingslagern ist, zeigen Vorfälle in Nablus und Jenin: Dort wurden palästinensische Sicherheitskräfte für israelische Undercover-Agenten gehalten und angegriffen.

Nach dem Angriff aus Gaza werden in Israel die Karten für die Sicherheit neu gemischt. Viele Fragen bleiben. Denn eine Erklärung der Katastrophe um Gaza war sicher auch, das man sich bei den Nachrichtendiensten und auch beim Militär auf ein bestimmtes Szenario eingerichtet hatte: Beschuss aus Gaza mit Raketen – Einsatz des Abwehrsystems Iron Dome – dann massive Luftschläge Israels gegen die Basen der Hamas – dann Feuerpause bis zum nächsten Schlagabtausch. Routine innerhalb der Bedrohung. Diese Taktik, auch seitens Israels, wird nicht mehr verfangen. Ein wirksamer Langzeitschlag gegen die Hamas-Terroristen wird ohne Bodenoffensive nicht mehr operativ möglich sein. Das bedeutet urbaner Kampf, Haus um Haus, mit hohen Verlusten, die Israel bisher gescheut hat – aber seit dem 7. Oktober ist vieles anders.

Rolf Tophoven ist selbstständiger Publizist und Buchautor. Er zählt zu den Gründungsmitgliedern des Bonner Instituts für Terrorismusforschung. Heute leitet er das Institut für Krisenprävention in Essen.