Ermächtigungsgesetz vor 90 Jahren Diktatur per Mehrheitsbeschluss

Analyse · Im März 1933 schaltete sich der Reichstag selbst aus der Politik aus, indem er dem Ermächtigungsgesetz zustimmte. Das ebnete Adolf Hitler endgültig seinen Weg. Warum das Ende der Weimarer Republik ein Lehrstück bleibt.

 SPD-Vorsitzender Otto Wels bei seiner Rede vor dem Reichstag im März 1933.

SPD-Vorsitzender Otto Wels bei seiner Rede vor dem Reichstag im März 1933.

Foto: dpa/dpa, dpa

Otto Wels war eigentlich kein überragender Redner. Mit seiner Ansprache vor dem Reichstag am 23. März 1933 aber ging der Sozialdemokrat in die Geschichte ein. Wie der damalige SPD-Vorsitzende und Oppositionsführer das Nein seiner Partei zum Gesetzentwurf der Nationalsozialisten verteidigte, gilt als Licht in einer der dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte.

Geradezu zahm klangen Wels‘ Worte: „Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll“, sagte er. Doch für die „Grundsätze der Menschlichkeit, Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus“ einzutreten, war zu diesem Zeitpunkt in Deutschland nichts Geringeres als: lebensgefährlich.

Das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ konnte es nicht verhindern. In der Drohkulisse aus bewaffneten SA-Mitgliedern und vorausgegangenen Verhaftungen einiger Abgeordneter erhielt Hitlers Vorschlag 444 Ja-Stimmen – und 94 Gegenstimmen der SPD. Das Ermächtigungsgesetz, das de facto dem Reichskanzler die alleinige Gesetzgebung übertrug, trat am 24. März 1933 in Kraft. Die Gewaltenteilung war damit aufgehoben, andere Parteien ausgeschaltet, das Parlament entmachtet.

 Vom Totenschein der ersten deutschen Demokratie spricht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Gastbeitrag zum 90. Jahrestag dieses Ereignisses. „Dieses Datum müssen wir kennen. Diese Geschichte geht uns etwas an“, appelliert er. In vielen Teilen der Welt würden Demokratien zerstört, Justiz und Presse angegriffen. „Der Blick zurück zeigt, was Demokratien auch heute bedroht: Sind die Verächter der Demokratie erst einmal in Schlüsselstellen des Staates gerückt, missbrauchen sie dessen Machtmittel zur Zerstörung der Demokratie“, so Steinmeier.

So weit ist es in der Bundesrepublik selbst sicher nicht. Trotzdem bietet nicht nur ein Jahrestag Anlass zu hinterfragen: Wie stabil ist die Demokratie in Deutschland? Schließlich ist sie ein komplexes Gebilde, das sowohl von innen als auch von außen mal mehr, mal weniger sichtbar angegriffen werden kann. Deutlich zur Anspannung der innerstaatlichen Situation beigetragen haben die vergangenen drei Corona-Jahre. Von Misstrauen, Enttäuschung und Verärgerung in der Mitte der Gesellschaft bis hin zu Verachtung und Hetze aus dem Milieu der Verschwörungsgläubigen hat die Kritik am Rechtsstaat zugenommen.

Sogar der Begriff „Ermächtigungsgesetz“ fand 2020 eine unrühmliche Renaissance: In Telegram-Gruppen und auf Demonstrationen verunglimpften Corona-Leugner den „Dritten Entwurf des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung“ als „Ermächtigungsgesetz“, kurz bevor der Bundestag im November 2020 darüber abstimmen sollte. Zwar ist das Wort „Ermächtigung“ selbst kein Nazi-Jargon, sondern ein Rechtsbegriff, der sich noch heute allein elfmal im Grundgesetz wiederfindet. Der Vergleich aber war nichts anderes als eine Relativierung der NS-Herrschaft.

Inzwischen ist die Pandemie vorbei, die Ideologien und Strukturen der Corona-Leugner aber scheinen sich weiter zu verfestigen. Wie eine Auswertung des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen in diesen Tagen ergab, haben sich aus der Corona-Protestlerszene „Demokratiefeinde entwickelt, denen es um die Delegitimierung des Staates geht“. Die Verfassungsschützer sprechen von einem harten Kern zwischen 50 und 70 Personen, das Umfeld sei aber wesentlich größer. Die Gruppen würden nun umbenannt, Themen erweitert: Um Energiepreise, Waffenlieferungen an die Ukraine und die Russland-Sanktionen werden nun neue Verschwörungsmythen gestrickt.

Die Extremen mögen eine schrille, diffuse Minderheit sein, die in drastischen Fällen zu „Reichsbürgern“ werden und sich auch gewaltbereit gegen den Staat stellen. Aber auch die gesellschaftliche Mitte als Säule der Demokratie ist nicht unverwundbar. Ob es um Strompreise, Mietbremse, Waffenlieferungen oder Verbrennermotoren geht: Elementare Entscheidungen in Krisenzeiten, die scheinbar immer nur zum Wohle der Bedürftigsten getroffen werden; Entscheider, die immer nur von einer Ebene auf die andere verweisen – all das kann Politikverdrossenheit fördern, den Stein stetig aushöhlen. Demokratieskepsis zeigt sich dann etwa in schrumpfender Wahlbeteiligung, Hinwendung zu linken oder rechten Rändern. Hinzu kommt die Bedrohung von außen: Antidemokratische Staaten wie Russland und China, die noch dazu ihre Allianzen festigen, destabilisieren derzeit die Weltordnung. Auch durch Propaganda und versuchte Wahlbeeinflussung in demokratischen Staaten.

Das Propagandaministerium, das die Nazis zehn Tage vor dem Ermächtigungsgesetz eingerichtet hatten, sorgte für die notwendige Täuschung der Bevölkerung, ließ die Machenschaften des NS-Regimes für das Volk zweckmäßig erscheinen. Erst mit Ende des Krieges im Mai 1945 erlosch das Gesetz. Die Neuausrichtung des Parlamentes der Bundesrepublik knüpft an jene letzte Sitzung des Reichstages im März 1933 an – nicht zuletzt an die berühmten Worte des einsamen Rufers Otto Wels: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“, sagte er, bevor er nach Prag floh, später nach Paris. Wo er kurz nach Kriegsbeginn starb.

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