Ein Hoch auf das Trinkgeld Die Deutschen geizen am falschen Ende
Analyse · Was ist eine gute Bedienung im Restaurant wert? Sicherlich mehr, als die fünf bis sechs Prozent, die Menschen derzeit im Schnitt als Trinkgeld geben. Warum sind die Deutschen auf einmal so knausrig?
Mein Vater (93) ist nicht nur ein freundlicher älterer Herr, sondern auch ein ausgesprochen großzügiger Mensch. Oft lädt er die Familie oder Freunde zum Essen ein, auch sonst ist er äußerst freigebig. Doch beim Trinkgeld kommt seine schwäbische Herkunft zum Vorschein. Jüngst hat er mir und einem seiner Enkel ein leckeres Essen beim Griechen spendiert. 97,20 Euro stand auf der Rechnung. „Runden Sie es auf 98 Euro auf“, sagte er freundlich zum Kellner, dem schier die Kinnlade herunterfiel. Als die leicht düpierte Servicekraft das Rückgeld ostentativ herausgeben wollte, bestand er ohne Arg auf dem aufgerundeten Betrag. „Das geht so in Ordnung.“ Schnell zog ich zehn Euro aus der Tasche und erklärte: „Und das ist das Trinkgeld.“ Die Welt war wieder in Ordnung. Wir bekamen sogar noch den obligatorischen Ouzo.
Das Trinkgeld gehört zur deutschen Gastlichkeit wie das frisch gezapfte Bier oder der kühle Schoppen Wein. Doch genauso traditionell ist es, die Rechnung bescheiden aufzurunden – bis zum vollen Euro oder bei mehr Großzügigkeit bis zum nächsten glatten Betrag. In diese Richtung wurde mein Vater sozialisiert. Ein üppigeres Trinkgeld, das zehn bis 15 Prozent der Essenssumme ausmacht, ist eher selten. Anteile wie in den USA, wo manche Restaurants für ihre Bedienungen bis zu 30 Prozent erwarten, sind in Deutschland undenkbar. Ein solches Verhalten gilt sogar als protzig. Schließlich gehen die meisten Gäste davon aus, dass die Kellnerinnen und Kellner anders als in den Vereinigten Staaten hierzulande ordentlich bezahlt werden.
Doch da fängt es schon an. Nach Auskunft des Jobvermittlers Stepstone verdient eine Restaurantfachkraft in Düsseldorf durchschnittlich im Monat 2361 Euro brutto im Monat, in Kleve sind es sogar nur 2172 Euro. Dafür schuftet sie 40 Stunden pro Woche zu eher ungünstigen Zeiten am Abend und am Wochenende. Und körperlich anstrengend ist es obendrein. Ein ganzes Leben abends auf den Beinen stehen, ist fast nicht möglich. Besonders schlimm ist es, wenn die Gäste in der Stammkneipe nicht nach Hause gehen und der Wirt das akzeptiert, weil er auf sie angewiesen ist. Bei langjähriger Berufserfahrung und in besseren Restaurants kann es beim Gehalt schon mal über 2500 Euro gehen. Dann gehört die Servicekraft aber schon zum oberen Viertel in ihrem Berufssegment.
Klar, dass bei solchen Gehältern Trinkgelder eine willkommene Zusatzquelle für das Einkommen sind. Sie geben zugleich ehrlich und direkt darauf Antwort, ob ein Gast zufrieden mit der Bedienung war. Damit zeigt der Obolus den echten Marktwert einer Kellnerin oder eines Kellners an. Er ist Ausdruck der Wertschätzung für die Qualität der Arbeit, nicht zuletzt für die Tätigkeit an sich. In einem Land, das lieber Ingenieurleistungen, technischen Fertigkeiten oder ärztlicher Kunst seinen Respekt zollt, gehört leider die kunstvoll inszenierte Bedienung mit köstlichen Speisen nicht unbedingt dazu. Auch nicht der schnelle Taxitransport, der den Fahrgast trotz Stau über Nebenstraßen rechtzeitig zum Ziel bringt oder die belebende und schmerzstillende Massage. Trotz der Wohltat für Nerven, Körper und Seele sehen viele Deutsche solche Dienstleistungen als selbstverständlich. Sie genießen anders als in den Kulturen des Mittelmeers oder des Orients keinen allzu hohen Stellenwert. Zu Unrecht.
Und noch etwas kommt hinzu. Die starken Preissteigerungen des vergangenen Jahres haben die Deutschen beim Trinkgeldgeben noch zurückhaltender gemacht. Nach Angaben des Deutschen Hotel- und Gaststätten-Verbands Dehoga ist die freiwillige Gabe im Schnitt weniger geworden. Auf fünf bis sechs Prozent schätzt es die Lobby der Restaurants. Vor Corona und Inflation waren die Gasthausbesucher großzügiger. Weil Essen gehen damals immer stärker zur neuen Kultur der Deutschen zählte, änderte sich auch ihr Trinkgeldverhalten. Zusammen mit den höheren Temperaturen trug die neue Freizeitgestaltung zur Mediterranisierung unseres Landes bei. Lockdowns und Energiepreisexplosion haben die Deutschen wieder zu Sparfüchsen gemacht. Die Servicekräfte der Gastronomie leiden darunter.
Pech auch, dass Restaurants und Hotels verzweifelt nach Fachkräften suchen. Weil die Corona-Pandemie viele Kellnerinnen und Kellner arbeitslos gemacht hat, hat ein großer Teil von ihnen die Branche gewechselt. Die Bedienung eines Restaurants muss flexibel handeln können, darf nicht auf den Mund gefallen sein und sollte die Grundrechenarten beherrschen. Beste Voraussetzungen für andere Jobs, die diese Fertigkeiten erfordern. Handwerke und Industriebetriebe, die sich über die mangelnden Schulkenntnisse ihrer Azubis ärgern, wissen, wovon die Rede ist.
Die Gäste merken es mittlerweile auch und dürften bereuen, nicht noch mehr für solche Leistungen gezahlt haben. Wer nach der Pandemie wieder ein Lokal aufgesucht hat oder in einem guten Hotel frühstücken wollte, konnte erleben, wie ausgefeilt die Servicekräfte zuvor gearbeitet hatten. Eine halbe Stunde auf das Essen warten, den zweiten Kaffee nach der dritten Ermahnung besser abzuschreiben oder Sonderwünsche wie Milch und Zucker ganz zu verschweigen, das war vorher undenkbar. Und die guten Geister, die sich zwischen den engen Tischen traumwandlerisch sicher bewegten und die Speisen unversehrt an den Tisch brachten, gehörten plötzlich einer anderen Zeit an. In Teilen schneiden sich die Gäste ins eigene Fleisch. Immer mehr Restaurantbesitzer kürzen die Öffnungszeiten, weil sie kaum noch Servicekräfte finden.
Doch die listige Branche hat sich schnell auf Alternativen besonnen. Und der große Lehrmeister heißt einmal mehr USA. Mit der Einführung des bargeldlosen Bezahlens auch im Restaurant erscheint auf den modernen Abrechnungsgeräten der Servicekräfte plötzlich der Button: „Welches Trinkgeld wollen Sie geben: zehn, 15 oder 20 Prozent?“ Handelt es sich um den schnellen Capuccino oder Espresso um die Ecke, tippt man schon mal schnell 15 Prozent ein, obwohl man den Kaffee an der Theke genommen hat. Welche Ungerechtigkeit gegenüber dem Kellner in einem größeren Restaurant, der die Bestellung aufnehmen, das Essen auftragen und wieder abtragen sowie schließlich die Rechnung stellen muss? Er bekommt nur fünf bis sechs Prozent – bei ungleich höherer Beanspruchung.
Restaurantbesitzer oder Kneipiers haben schnell bemerkt, dass bei elektronischer Bezahlung die Trinkgelder höher ausfallen. Wer will sich schon dabei erwischen lassen, dass er besonders knausrig ist? Oder gar sich beschweren muss, weil die Felder „kein Trinkgeld“ oder „fünf Prozent“ fehlen. Der Ökonom Nathan Warren, der an der Wirtschaftshochschule im norwegischen Oslo über digitales Trinkgeld forscht, stellt bereits ein anderes Kundenverhalten durch die Kartenzahlung fest. So gibt der Gast zwar im Schnitt mehr oben drauf, er wählt aber sein Restaurant auch viel sorgfältiger aus und vermeidet künftig allzu gierige Wirte und Servicekräfte.
Die Verwerfungen in den personennahen Dienstleistungen durch Pandemie und Inflation ändern generell das Verhalten der Kunden. Der Restaurantbesuch wird seltener, der eigene Herd wieder wichtiger. Nicht umsonst erleben Kochsendungen einen nie da gewesenen Boom. Wer aber erkennt, dass seine komparativen Fähigkeiten nicht unbedingt im Kochen oder der Schaffung einer netten häuslichen Atmosphäre liegen, der wird auch künftig die Stätten der Gastlichkeit aufsuchen. Und er oder sie werden dann mit einem üppigeren Trinkgeld die Leistungen der geschickten, aber tendenziell unterbezahlten Fachkräfte der Gastronomie zu würdigen wissen. Und wenn der Einladende aus verständlichen Gründen nicht mehr umlernen kann, muss eben einer der Eingeladenen in die Bresche springen. Es lohnt sich.