Eskalierender Nahostkonflikt Die fatalen Mythen der Palästinenser und Israelis
Analyse · Die Akteure im Nahen Osten berufen sich bei ihren Aktionen gern auf unverrückbare Glaubenssätze, die jede Lösung des Konflikts erschweren. Was ist dran an den Mythen, von denen beide Seiten nicht lassen können.
Der Nahostkonflikt eskaliert nach dem Terror der Hamas in einem Maß, das noch vor Wochen kaum denkbar war. Doch die Gründe für diesen scheinbar immerwährenden Konflikt liegen tief. Um ihn ranken sich jede Menge Mythen und Glaubenssätze, die den Wirklichkeitstest nicht bestehen. Unsere Redaktion hat sieben von ihnen genauer analysiert.
1. Die Palästinenser sind die Opfer deutscher Schuld wegen des Holocaust
Diese Vorstellung ist vor allem bei linken Gruppen und Sympathisanten der Palästinenser weltweit verbreitet. Danach ist der Staat Israel eine direkt Folge des Holocaust. Weil die Juden von den Deutschen während der NS-Zeit millionenfach ermordet wurden, schenkte die westliche Welt den Überlebenden den Staat Israel und drängte den Deutschen eine besondere Verpflichtung auf. Das ist falsch. Der jüdische Staat ist aus der zionistischen Bewegung entstanden, die schon im Jahr 1897 auf ihrem ersten Weltkongress in Basel eine „öffentlich-rechtlich geschützte Heimstätte forderte. Die Briten versprachen den Zionisten, die den Antisemitismus in aller Welt für unüberwindbar hielten, schon 1917 eine Heimstätte (Balfour-Deklaration). Die Katastrophe des Holocaust bewegte viele Länder in den Vereinten Nationen, den Juden (wie den Palästinensern) im Jahr 1947 einen Staat zuzusprechen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor dem israelischen Parlament, der Knesset, schließlich erklärt, dass das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson zählt. Die Palästinenser sind aber nicht Opfer der deutschen Schuld.
2. Der jüdische Staat ist der imperialistische Vorposten der USA im Nahen Osten
Der Staat Israel hat seine Grundlage in einem Mehrheitsbeschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 29. November 1947. Damals stimmten zwei Drittel der Delegierten – unter ihnen die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion – für eine Zwei-Staaten-Lösung. Der jüdische Staat sollte 14.000 Quadratkilometer (etwa die Fläche Schleswig-Holsteins) erhalten, die Palästinenser 11.000 Quadratkilometer. Die arabischen Staaten und die palästinensischen Organisationen erkannten das völkerrechtlich verbindliche Votum der UN nicht an und begannen 1948 einen Krieg, der mit einem Sieg Israels endete. Der Staat Israel ergibt sich also aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das auch für die Palästinenser gilt.
3. Die jüdischen Israelis sind die Unterdrücker, die arabischen Palästinenser die Unterdrückten
Dies ist ein ganz infames Narrativ. Tatsächlich waren zunächst die Juden in Palästina die Underdogs. Sie wurden weder vom Osmanischen Reich, das bis 1918 dort herrschte, als vollwertige Bürger anerkannt, noch von der britischen Mandatsmacht, die bis 1947 für das Land zuständig war. Erst die Vereinten Nationen betrachteten Juden wie Palästinenser als freie Bürger. Allerdings lehnten Letztere den ihnen zugewiesenen Staat ab, die Zionisten stimmten zu. Die in Israel lebenden Araber haben das Bürgerrecht, wenn auch mit Einschränkungen. Sie sind benachteiligt, aber von brutaler Unterdrückung kann nicht die Rede sein. Im Jahr 1967 hat die Armee des jüdischen Staats das Westjordanland, den Gaza-Streifen und die Golanhöhen besetzt. Hier ist zunehmend eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstanden. Aus dem Gaza-Streifen hat sich Israel 2005 zurückgezogen. Für die Westbank gilt ab 1994/1995 ein Autonomiestatut, das aber den Palästinensern kaum zum Vorteil gereicht. Es ist das Ergebnis der korrupten und unfähigen palästinensischen Führung, aber auch der bisweilen harten Hand der israelischen Besatzungstruppen. Die Situation ist also wesentlich komplizierter als ein einfaches Schema, nach dem es nur Unterdrücker und Unterdrückte gibt.
4. Die Vertreibung der Palästinenser aus ihrem Land ist vergleichbar dem Holocaust
Der Mord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch NS-Deutschland ist einzigartig in der Menschheitsgeschichte. Die Nakba (“Katastrophe“) der Palästinenser, die 1948 aus Israel flohen oder vertrieben wurden, brachte großes Leid über die 500.000 bis 900.000 Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Das geschehene Unrecht war nicht zuletzt Ergebnis des Krieges, den die arabischen Länder gegen Israel begonnen hatten. Von israelischer Seite wurden Flucht und Vertreibung allerdings nur unzureichend aufgearbeitet, ein wunder Punkt in der Geschichte des jüdischen Staats.
5. Die Juden haben sich widerrechtlich das Land der Palästinenser angeeignet
In Palästina gab es von der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 bis zur Entstehung des Zionismus im 19. Jahrhundert dauerhafte jüdische Siedlungen. Vor der ersten großen Einwanderung 1882 lebten im Land 25.000 Juden und 430.000 Araber. Danach kamen in mehreren großen Wellen Juden nach Palästina und in den Staat Israel, zuletzt in den 1980er und 90er Jahren aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Die meisten erwarben Land durch Kauf, nach der großen Flucht gab es allerdings auch viele freigewordenen Grundstücke. Hier war der Eigentumsübergang oft strittig. Eine große widerrechtliche Landnahme sieht anders aus. Die Besetzung des Westjordanlands durch israelische Siedler gilt jedoch nach mehreren Resolutionen des UN-Sicherheitsrats als völkerrechtswidrig. Auch wenn die Juden vornehmlich in den ihnen zugesprochenen Gebieten Land erwerben, ist das nach internationalem Recht unrechtmäßig.
6. Die Zukunft Israels und Palästina wird die Demografie lösen
Palästinensische Politiker hoffen darauf, dass die höheren Geburtenraten der arabischen Bevölkerung das demografische Gleichgewicht so verschieben, dass die Muslime die Oberhand gewinnen. Im alten Mandatsgebiet der Briten leben derzeit je 6,5 Millionen jüdische Israelis und Araber (die Palästinenser in der Westbank und in Gaza mitgerechnet). Die Geburtentrate der Jüdinnen mit 2,9 Kindern pro Frau (2020) ist die höchste in der westlichen Welt, die der Palästinenserinnen ist mit 3,7 Kindern noch stärker, sinkt jedoch seit Jahren. Gerade unter orthodoxen Juden nimmt dagegen die Kinderzahl wieder zu. Die Prognosen dürften auf einen künftigen Überhang der arabischen Bevölkerung zulaufen. Das könnte zu weiteren Spannungen führen, aber kaum den Konflikt von alleine lösen. Juden wie Muslime werden in Israel und Palästina bleiben. Sie müssen sich politisch einigen, so unerreichbar das gegenwärtig scheint.
7. Israel hat einen biblischen Anspruch auf das Land westlich des Jordans und auf Jerusalem als Hauptstadt
Die Haltung Israels und besonders seiner derzeitigen Mitte-Rechts-Regierung (mit rechtsextremen Kräften) hat in jüngerer Zeit kaum zu einer Befriedung des Nahostkonflikts beigetragen. Premierminister Benjamin Netanjahu hat den Ausbau jüdischer Siedlungen in der Westbank forciert und damit die palästinensische Seite provoziert (was keine Rechtfertigung des Hamas-Terrors bedeutet). Gerade die Rechtsaußen-Parteien und teilweise auch die rechtskonservative Likud-Partei beruft sich auf die Bibel und die Religion, wenn sie das Westjordanland und Jerusalem als „ewiges“ Land der Juden bezeichnen. Dafür gibt es weder eine historische noch völkerrechtliche Begründung. Weder die Mandatsmächte noch die Staatengemeinschaft haben jemals Israel dieses Land zugestanden. Die Armee hat es eben im Sechs-Tage-Krieg erobert. Eine Annexion wäre ebenso völkerrechtswidrig wie der Ausbau der jüdischen Siedlungen. Hier führt der Mythos zu illegalen Handlungen der israelischen Seite. Wenn sie nicht aufhören, wird es niemals zu einem Frieden kommen.