Debatte über das Ruhrgebiet Eine Region macht sich künstlich klein

Analyse · Nordrhein-Westfalen und das Ruhrgebiet waren lange Zeit Vorreiter beim Umbau einer industriellen Region. Die innnovative IBA Emscher Park und ihr Initiator Karl Ganser standen dafür. Doch die revolutionären Impulse wurden nicht weitergeführt – mit verheerenden Auswirkungen.

Die Emscher mit dem spektakulaer beleuchteten Gasometer von Oberhausen bei Nacht. Der Fluss und das Industriedenkmal waren Leittürme der Internationalen Bauausstellung Emscher Park.

Die Emscher mit dem spektakulaer beleuchteten Gasometer von Oberhausen bei Nacht. Der Fluss und das Industriedenkmal waren Leittürme der Internationalen Bauausstellung Emscher Park.

Foto: dpa

Nur wenige Fachleute dürften Karl Ganser noch kennen. Vor einem Jahr ist der Geograph und Raumplaner gestorben – ein Symposium, an dem frühere NRW-Landesminister und etliche Oberbürgermeister teilnahmen, hat ihn jüngst gewürdigt. Zu Recht. Denn Ganser hat wie kaum ein anderer das Ruhrgebiet in den Jahren zwischen 1980 und 2000 verändert. Er hat in der Region eine der spannendsten Transformationen von einer alten Industrielandschaft zu einer modernen Dienstleistungsökonomie angestoßen, die verschlafene Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumforschung (heute Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung) zu einem weltweit gefragten Labor des wirtschaftlichen und ökologischen Umbaus gemacht und das betuliche Fach Geographie zu einer Leitdisziplin in diesem Prozess befördert.

Ohne Ganser gäbe es keinen Gasometer mehr in Oberhausen mit seinen eine Million Besuchern pro Jahr, kein Eisenhüttenwerk im Landschaftspark Duisburg-Nord, keine Zeche Zollverein in Essen, und der Fluss Emscher wäre womöglich die gleich Kloake wie in Zeiten der Gruben und Stahlwerke. „Kohle, Kohle, Stahl, Stahl“ das war laut früherem NRW-Ministerpräsidenten Heinz Kühn (SPD) das Markenzeichen des bevölkerungsreichsten deutschen Bundeslandes. Ganser im Verein mit den innovationsfreudigeren Politikern Johannes Rau (NRW-Ministerpräsident) und Christoph Zöpel (Bau- und Verkehrsminister) machte hingegen das Land und vor allem das Ruhrgebiet zeitweise zur spannendsten Region Deutschlands. Delegationen aus Japan, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Israel besuchten die größte urbane Konglomeration Europas und bestaunten die Bereitschaft zu Wandel und Veränderung – politisch, wirtschaftlich und kulturell.

Der Kern des neuen Ruhrgebiets war die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park, angelehnt an einen ähnlichen Prozess in West-Berlin in den 50er Jahren, als der Westteil der früheren deutschen Hauptstadt ein neues architektonisches Gesicht erhalten sollte. Über 120 Projekte wurden von 1989 bis 1999 angestoßen und gefördert, eine Region war in Bewegung, Essen wurde zur Kulturhauptstadt Europas, die Autobahn A40 zur Flaniermeile, die Ruhrtriennale zum führenden Festival Deutschlands, vergleichbar nur mit den Festspielen in Bayreuth.

Das Land Nordrhein-Westfalen stand nach Jahren des relativen Niedergangs auf einmal wieder im Zentrum der Diskussionen und Debatten um Übergänge und ökonomischen Wandel. Es war Vorbild für den Umbau der ehemaligen DDR und den gewaltigen Wandel in Osteuropa. Eine Region, in der die Großindustrie den Ton angab, sollte zu einem Campus der Wissensgesellschaft mit Universitäten, Unternehmensneugründungen und innovativen Mittelständlern werden. Zugleich sollte die Region ihr industrielles Erbe als Bau- und Wirtschaftskultur erhalten und wieder an die Spitze in Deutschland gelangen. Das waren die ehrgeizigen Ziele der IBA Emscher Park – gefördert mit Milliarden durch Bund und Land, aber ausgeführt vielfach von den Kommunen und Großstädten vor Ort. Gegen vielfältigen Widerstand.

Nun, wirtschaftlich hat das gewaltige Experiment nicht ganz das gebracht, was es sollte. Die Produktivität, die Zahl der Neugründungen oder die Anmeldung von Patenten liegen im Ruhrgebiet noch immer hinter anderen Landesteilen in NRW und vor allem gegenüber dem Süden Deutschlands deutlich zurück. Auch wenn eine Stadt wie Dortmund inzwischen mehr Arbeitsplätze zählt als zu Hochzeiten der Stahl- und Kohleproduktion, ist sie im Vergleich zu Frankfurt, Stuttgart, dem Rhein-Neckar-Raum und erst recht Hamburg und München in allen Städte-Rankings nur zweitklassig. Das Gleiche gilt für Essen und Bochum, während Duisburg und Gelsenkirchen ihr Schmuddel- und Armuts-Image nie ganz ablegen konnten.

In den Jahren von 1980 bis 2000 aber ging vom Ruhrgebiet eine völlig neue Energie aus. Eine Mischung aus kulturellem, sportlichem und wissenschaftlichem Aufbruch, radikalem Wirtschaftsumbau, gelungener Integration ausländischer Malocherfamilien und Aufstieg bislang bildungsferner Schichten. Die Region nahm sich plötzlich als Metropole wahr, die mit anderen Agglomerationen wie London, Paris, Randstad, Berlin oder München konkurrierte und besser abschnitt als frühere Industriegebiete wie Mittelengland, Wallonien oder Lothringen. „Innovatives Regierungshandeln“ nannte es Wolfgang Roters, der Ganser als Chef der Städtebau-Abteilung im NRW-Verkehrsministerium nachfolgte und jahrelang eng mit ihm zusammenarbeitete.

Inzwischen hat sich der innovative Impuls weitgehend verflüchtigt. Als letzte Aktion der IBA Emscher Park wurde das Delta der einstigen Industriekloake und jetzt wieder quicklebendigen Flusses Emscher in natürlicher Form wiederhergestellt. Die Renaturierung dieses Wasserlaufs gilt als die größte Leistung Gansers, der damit dem Ruhrgebiet ein großes Stück Natur zurückgab. Ein Beispiel für andere hochbelastete Industrieflüsse. Doch sonst dümpelt Nordrhein-Westfalen seit dem Jahr 2000 zwischen Mittelmaß, zurückgenommenen Ambitionen und höchst provinziellem Regierungshandeln. Das Land hat sich in der Mitte der Bundesrepublik eingerichtet, will nicht mehr Vorreite sein. Selbst der gewaltige Umbau der fossilen Energielandschaft hin zu einer klimafreundlicheren Strom- und Wärmegewinnung zeigt sich mehr in Protesten um den Hambacher Forst oder das Dörfchen Lützerath als in innovativen Veränderungen. Der Wandel im Rheinischen Braunkohlerevier – von ähnlicher Tragweite wie im Ruhrgebiet – vollzieht sich im Klein-Klein unzähliger fragwürdiger und unspektakulärer Förderprojekte. Die Bewerbung für Olympia hätte ein weiterer Aufbruch sein können. Doch auch sie scheiterte vorerst kläglich. Es mangelte an Rückhalt in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Richtig: Nach wie vor ist Nordrhein-Westfalen und das Ruhrgebiet ein zentraler Wirtschaftsstandort in Deutschland und das Herz des Westens – auch kulturell und politisch. Doch Neuerungen, Ideen oder Impulse gehen vom Ruhrgebiet derzeit eher nicht aus. Das Symposium für Ganser wirkte da wie ein Klassentreffen, das in Erfolgen vergangener Zeiten schwelgte. Eine junge Planer-, Umwelt- und Unternehmergeneration mit neuen Perspektiven suchte man vergeblich. Eigentlich schade.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort