Antisemitismus in Deutschland Was der Fall Gil Ofarim lehrt

Meinung · Wurde der Sänger in einem Hotel wegen seines jüdischen Glaubens beleidigt oder hat er die Vorwürfe erfunden? So oder so zeigt der Fall Gil Ofarim: Vorverurteilungen sind gefährlich, Beschuldigungen nie folgenlos. Trotzdem lässt sich aus dem ganzen Verfahren auch Positives herausziehen.

 Oktober 2021: Die Solidaritätswelle zeigte sich auch vor dem Hotel in Leipzig.

Oktober 2021: Die Solidaritätswelle zeigte sich auch vor dem Hotel in Leipzig.

Foto: dpa/Dirk Knofe

Einen letzten Auftritt hatte Gil Ofarim in der RTL-Inszenierung „Die Passion“ kurz vor Ostern. Die vorab gedrehten Szenen mit ihm und Jesus Alexander Klaws wurden nur auf einer Leinwand eingespielt, vor Ort beim Live-Event in der Essener Innenstadt war Ofarim nicht. Zu groß war der Wirbel um seine Person in den vergangenen Wochen und Monaten, auch wenn es zuletzt still um ihn geworden ist. Der Vorfall in einem Leipziger Hotel, in dem der Sänger nach eigener Aussage antisemitisch beleidigt worden war, ist ein Fall für die Staatsanwaltschaft geworden. Und deren Aufarbeitung ergibt inzwischen ein ganz anderes Bild.

Während das Leipziger Landgericht gerade prüft, ob sie die Klage der Staatsanwaltschaft gegen Ofarim wegen Verleumdung zulässt, ist das Verfahren gegen den Hotelmitarbeiter eingestellt worden. Am Mittwochabend betonte der Anwalt Ofarims im NDR-Magazin „Zapp“ zwar nochmals, dass der Sänger bei seiner Version bleibe. Wie unter anderem die Recherchen des „Spiegel“ zeigen, stellt sich die Sache allerdings ganz anders dar, als die viel beachtete, aus der Hotellobby in Leipzig gedrehte Instagram-Story des Sängers im Oktober suggerierte. Mehr als vier Millionen Aufrufe hat die zweiminütige Sequenz bis heute, die ganze Republik diskutierte damals über die Vorwürfe, die Ofarim darin gegen den Hotelmitarbeiter erhob. Politiker und Prominente standen ihm bei, Menschen gingen auf die Straße und demonstrierten gegen die renommierte Hotelkette.

Die Reaktionen kamen schnell, die Sache schien eindeutig: Ein Mensch mit einem Davidstern um den Hals wird beleidigt, niemand schreitet ein, Deutschland im 21. Jahrhundert. Die Solidaritätsbekundungen sind wohltuend, der Antisemitismusaufschrei ist der richtige Reflex – eigentlich. Wer Diskriminierung erlebt, ob am Arbeitsplatz, in der Bahn oder sonst wo im Alltag, sollte Haltung zeigen, einschreiten oder anderweitig eingreifen, notfalls die Polizei anrufen. Doch das ist eben der Unterschied, die Falle, in die das große Kollektiv der Empörten getappt ist: Niemand hat es live erlebt. Niemand bis auf die wenigen Zeugen, die nun Teil der juristischen Aufarbeitung sind. Und deren Endergebnis es abzuwarten gilt.

Wer nun was getan hat, welche Darstellung der Wahrheit am nächsten kommt, ist als Erkenntnis aber kein Allheilmittel. Der Ruf der Hotelkette hat gelitten, und auch am Image des Sängers wird etwas haften bleiben – egal wie der Fall juristisch ausgeht. Vorverurteilungen sind ein Problem, das auch von der Schnelllebigkeit der Medienwelt gespeist wird. Jeder hat auf alles Zugriff, Ereignisse sind online, kurz nachdem oder noch während sie passieren. Doch bei all dem Gefühl, dabei zu sein, wird vergessen, dass man es eben nicht ist. Dass Bilder nur Ausschnitte, Worte nur Versionen sind.

Die Bereitschaft, sich solidarisch zu zeigen, ist hoch, das hat der Fall gezeigt. Öffentlich an der Seite der Opfer zu stehen, ist ein wichtiges und unerlässliches Zeichen – gerade wenn es um Antisemitismus geht. Bei der Urteilsbildung aber ist Vorsicht angesagt. Beschuldigte werden das Etikett der Schuld oft nie ganz los, Betroffene bekommen umgekehrt nie die Aufmerksamkeit, die ihnen zustünde, wenn sie sich erst im Nachhinein als Opfer herausstellen. Im Falle des Hotelmitarbeiters haben sich womöglich viele getäuscht. Dass er nicht sofort entlassen wurde, ist gut. Zurückhaltung im Be- und Verurteilen ist das Gebot der Stunde, so viel lässt sich aus diesem Vorfall lernen. Es gilt die Unschuldsvermutung. Und zwar nicht nur juristisch.

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