Debatte über Documenta und „Judensau“-Figuren an Kirchen Die Gesellschaft lässt die Juden allein

Meinung · Antisemitische Vorurteile und Symbole begleiten noch immer unseren Alltag. Viele Juden vermissen dabei die Solidarität der Gutmeinenden.

 Demonstranten stehen vor einer Podiumsveranstaltung der Bildungsstätte Anne Frank und der Trägergemeinschaft documenta gGmbH zum Thema "Antisemitismus in der Kunst" mit einem Banner vor der Veranstaltungshalle. der Documenta in Kassel.

Demonstranten stehen vor einer Podiumsveranstaltung der Bildungsstätte Anne Frank und der Trägergemeinschaft documenta gGmbH zum Thema "Antisemitismus in der Kunst" mit einem Banner vor der Veranstaltungshalle. der Documenta in Kassel.

Foto: dpa/Swen Pförtner

Die Juden und der Staat Israel können sich Deutschlands Solidarität sicher sein. Wann immer sie in Not geraten, ob bei Brandanschlägen wie auf das jüdische Altersheim in München 1970, Raketenangriffen auf israelische Städte oder einem versuchten Attentat auf die Synagoge in Halle (2019), stets solidarisieren sich die Deutschen mit den Juden. Es bleibt nicht bei leeren Worten. Deutschland hat mehr als sechzig Milliarden Euro Entschädigungsleistungen an die Hinterbliebenen der Naziverbrechen und den jüdischen Staat gezahlt. Dennoch beklagen jüdische Organisationen fortwährend die Zunahme des Antisemitismus in Deutschland und fordern ein härteres Vorgehen gegen Judenfeindlichkeit.

Jüngstes Beispiel ist die documenta 15 in Kassel. Selbst nach der Entfernung eines als judenfeindlich angesehenen Gemäldes und dem Rücktritt von Generaldirektorin Schormann, sieht der Zentralrat der Juden in Deutschland weiterhin antisemitische Tendenzen auf der Kunstschau und will diese daher abgebrochen wissen.

Maßen sich die Juden nicht die Rolle einer moralischen Instanz in Deutschland an – während Israel arabische Gebiete besetzt hält und dort jüdische Siedlungen errichtet? Auf diese vielfach gestellte Frage ist zu einzugehen – ansonsten nehmen das deutsch-jüdische Miteinander und die Gesellschaft insgesamt Schaden.

Die Reue der Deutschen über die Verbrechen der Nazis und die Bereitschaft, dafür Verantwortung zu übernehmen, ist ehrlich und verdient Anerkennung. Nach 1945, als das volle Ausmaß des Genozids sichtbar wurde, setzte sich bei der überwältigenden Mehrheit der Deutschen die Überzeugung durch, dass Judenhass verbrecherisch ist. Unter Antisemitismus versteht man bis heute die tödliche Feindschaft der Nazis. Doch Antijudaismus setzt auf der kleinen Flamme der Vorurteile an. Hitler, Himmler, Eichmann und Konsorten kamen nicht als Judenhasser zur Welt. Sie wurden von einer antisemitischen Umwelt geprägt.

Früh von Richard Wagners Musik fasziniert, wurde Adolf Hitler wie mehr als eine Million andere durch Wagners Hetzschrift „Das Judentum in der Musik“ beeinflusst. Darin verhöhnt der Komponist die Hebräer, spricht ihnen Kultur, ja Schöpfergeist ab und empfiehlt den Juden schließlich die Selbstvernichtung. Wagner war seinerzeit durchaus kein Einzelfall. Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger (1897-1910) agierte als geschickter Demagoge. Er verstand es, die Juden für alle Missstände verantwortlich zu machen und so als Sachwalter der Kleinbürger diese für sich zu mobilisieren. Hitler bezeichnete später Lueger als seinen ersten politischen Ziehvater. Der Naziführer bediente sich der gleichen Methode. Langsamer als in Wien, jedoch unnachsichtig, wurde auch in Berlin eine antijüdische Stimmung erzeugt. Der Historiker Heinrich Treitschke ersann die Parole „Die Juden sind unser Unglück“, die die Nazis später benutzten. Lueger, Treitschke, Wagner gaben vor, „lediglich“ den Einfluss der Juden begrenzen zu wollen. Doch Antisemitismus gleicht wie jeder Hass einer Bestie, die nicht ruht, ehe sie ihre selbst auserkorenen Feinde vernichtet hat.

Seit mindestens 1700 Jahren leben Juden in Deutschland. Zunächst in Harmonie und Frieden mit ihrer Umwelt. Am Rhein erblühten jüdische Gemeinden. Juden gehören damit zu den ältesten deutschen Bürgern. Doch während des ersten Kreuzzugs, Ende des 11. Jahrhunderts, wurde die Judenfeindschaft aus Frankreich nach Deutschland eingeschleppt und blieb hier kleben. Dabei gab sich der Antisemitismus stets modern. Sein Auftreten wechselte, doch die jüdische Zielscheibe blieb gleich. Zunächst berief man sich auf die Religion. Im christlichen Abendland bekämpfte man die Juden als Gottesmörder – während im Orient der Koran als Alibi der Judenfeindschaft diente.

Im Spätmittelalter kam in Europa das Schwein als judenfeindliches Symbol auf. Mit Vorliebe auf Kirchen – was bei einer damals weitgehend gläubigen und leseunkundigen Gesellschaft hohe Wirkung versprach. Die Judensau „schmückte“ unter anderem die Stadtkirche zu Wittenberg. Dort predigte auch Martin Luther. Der Reformator wetterte gegen die Hebräer und veröffentlichte das Pamphlet „Von den Jüden und ihren Lügen“, in dem er dazu aufrief, die Schriften der Hebräer und ihre Synagogen zu vernichten.

Als später viele Menschen ihren Glauben verloren, gab sich der Judenhass wissenschaftlich als Rassenlehre. Doch die Motive und Ziele blieben die alten. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg hetzten die Nationalisten gegen den jüdischen Industriellen und Politiker Rathenau: „Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!“. Vor hundert Jahren machten sie ihre Drohung in Berlin wahr.

Die Ächtung des unverhüllten mörderischen Antisemitismus ist wie erwähnt unzureichend. Denn sie belässt die Juden als Fremde, denen man notfalls Schutz gewährt. Doch der antisemitische Kern bleibt unberührt: Die Juden werden nicht als Teil der Gemeinschaft begriffen, damit bleiben sie von der Gesellschaft ausgeschlossen. Diese Haltung erlaubte es der Leitung der documenta, das indonesische Kuratoren-Kollektiv ruangrupa mit der Konzipierung der Kunstschau zu beauftragen. Die Gruppe wähnt sich im Kampf gegen den Kolonialismus, als deren Teil sie Israel versteht. Da dürfen die uralten Hetzbilder der Judensau und der raffgierigen Juden nicht fehlen. Das ist nicht künstlerische Freiheit – es ist Antisemitismus. Er betrifft nicht nur die Juden. Antisemitismus verletzt die Menschenwürde aller.

Rafael Seligmann, 74, ist Schriftsteller und Historiker. Zuletzt erschien seine Familienbiografie, „Rafi Judenbub“ .

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