Politischer Islam Falsche Toleranz gegenüber WM-Gastgeber Katar

Interview · „Katar ist nicht nur problematisch, weil es tausende Arbeiter versklavt hat, den Tod vieler in Kauf nahm und homosexuelle Menschen verfolgt, sondern auch, weil es den politischen Islam in Europa finanziert und unterstützt“, sagt der deutsch-arabisch-israelische Publizist Ahmad Mansour. Ein Gespräch über aufgeklärten Islam und seine Feinde.

 In Doha, Katar, fotografieren sich Menschen vor einem Hinweisschild zur Fußball-Weltmeisterschaft, die wahrscheinlich 1,2 Millionen Fans ins Land bringen wird.

In Doha, Katar, fotografieren sich Menschen vor einem Hinweisschild zur Fußball-Weltmeisterschaft, die wahrscheinlich 1,2 Millionen Fans ins Land bringen wird.

Foto: dpa/Nariman El-Mofty

Katars WM-Botschafter, der frühere Fußballer Khalid Salman, hat Homosexualität in einem Interview mit dem ZDF als „haram“, also verboten, bezeichnet und von einem „geistigen Schaden“ gesprochen. Daraufhin wurde das Interview nach ZDF-Angaben durch den Pressesprecher des WM-Organisationskomitees abgebrochen. Nun gibt es zu Recht Empörung in der westlichen Welt – kommt die zu spät?

Mansour Ich bin überrascht, dass die Leute überrascht sind über die Aussagen von Khalid Salman, denn was er gesagt hat, ist seit Jahren Teil der Ideologie des Landes, das er vertritt. Es gehört zudem zum Gedankengut in allen islamischen Ländern im arabischen Raum und wird über Sender wie Al Jazeera verbreitet und theologisch hergeleitet. Katar ist nicht nur problematisch, weil es tausende Arbeiter versklavt hat, den Tod vieler in Kauf nahm und homosexuelle Menschen verfolgt, sondern auch, weil es den politischen Islam in Europa finanziert und unterstützt. Der Westen ist immer überrascht, wenn aus irgendeinem aktuellen Anlass Akteure des politischen Islam Überzeugungen aussprechen, die westlichen Werten fundamental widersprechen. Wir sehen nicht, dass dahinter ein System steht, das Einfluss nehmen will und seit Jahren eine islamistische Agenda verfolgt. Das richtet sich gegen Homosexuelle, Juden, Schiiten und viele Ausdrucksformen von Freiheit, die wir in Europa für selbstverständlich halten.

Homosexualität als „haram“ zu bezeichnen, entspricht aber einer weit verbreiteten Auslegung des Islam.

Mansour Ja, genau wie es der konservativen Auslegung des Katholizismus entspricht. Aber es gibt in der katholischen Kirche eine Debatte, und die fehlt im Islam. In den meisten islamischen Ländern ist das Leben für homosexuelle Menschen schwierig, aber es gibt eine Hierarchie der Unterdrückung. In Katar werden Homosexuelle nicht in Ruhe gelassen, man verfolgt sie, mobbt sie, bekämpft sie theologisch. Das ist Teil eines Islamverständnisses, das in der arabischen Welt leider weit verbreitet ist. Und natürlich gibt es auch in Deutschland konservative Muslime, die Homosexualität offen ablehnen. Das ist ein Problem für die Integration. Wenn nämlich Menschen in Deutschland Moscheevereine besuchen, in denen Homosexualität verteufelt wird, und dann draußen auf der Straße eine Gesellschaft erleben, die offen und frei damit umgeht, wird es für sie natürlich schwierig, diese Gesellschaft zu akzeptieren und Freiheit inklusive der sexuellen Selbstbestimmung als Chance zu sehen. So entstehen Parallelgesellschaften.

Der frühere Außenminister und SPD-Politiker Sigmar Gabriel beklagt deutsche Arroganz im Umgang mit Katar und findet die deutsche Überheblichkeit „zum Ko...“! . Der Grünen-Politiker Joschka Fischer pflichtet ihm bei. Sollten wir uns mit Urteilen zurückhalten?

Mansour Nein, dann verraten wir unsere Werte. Katar ist kein Land, in dem es punktuell, etwa beim Thema Homosexualität, ein Problem gäbe. Katar, genau wie etwa der Iran, ist Teil des politischen Islam, unterstützt die Muslimbrüder und verfolgt Ziele auch in der westlichen Welt, auch in Deutschland. Katar hat sehr viel Geld in die Fußball-Weltmeisterschaft investiert, um sich reinzuwaschen und in der Welt gut dazustehen. Das Land will zeigen, wie großartig es ist und nutzt jede Gelegenheit, um sich als weltoffen zu inszenieren. Das ist hochproblematisch. Das sollten wir nicht verharmlosen.

Wenn Werte aufeinanderprallen und es Eklats gibt wie gerade nach den Aussagen Salmans, bleibt das Gefühl zurück, „der Islam“ lasse sich in offene, demokratische Gesellschaften nur schwer integrieren. Was lässt sich dem entgegensetzen?

Mansour Die Frage ist: Wollen wir den Islam integrieren, wie manche Vertreter der Bundesregierung meinen, oder Muslime? Beim Islam habe ich meine Zweifel, aber Muslime sind sehr unterschiedlich. Es gibt konservative Muslime, die viele westliche Werte ablehnen, das ist ein Problem für die Integration. Aber genauso gibt es natürlich Muslime, die nach Europa kommen, weil sie gerade Demokratie und westliche Freiheit schätzen. Und natürlich gibt es muslimische Schwule, die nach Europa fliehen, um hier in Ruhe leben zu können. Diese Muslime dürfen wir in der Debatte nicht vergessen, das sind die Menschen, die am meisten Schutz brauchen. Wir dürfen uns also nicht arrangieren mit Moscheevereinen hierzulande, die von Katar finanziert werden, die ihre Texte nach außen gendern und vorgeben, offen zu sein, nach innen aber konservative Überzeugungen und etwa Hass auf Homosexuelle predigen. Man kann homophobe Positionen theologisch auseinandernehmen, alternative Lesarten diskutieren, aber vor allem dürfen wir nicht blind tolerieren, um den Schein gelungener Integration zu wahren.

Sie haben mehrfach den politischen Islam erwähnt, was genau meinen Sie mit dem Begriff?

Mansour Der politische Islam ist eine Ideologie, die Anfang des 20. Jahrhunderts bei den Muslimbrüdern ihren Anfang nahm. Damals fanden sich Muslime zum ersten Mal in säkularen künstlich erzeugten nationalen Staaten wieder, also in einer Umgebung, in der Religion und Staat getrennt waren. Die Muslimbrüder reagierten darauf mit der Idee, sie müssten Religion und Staat wieder unter islamischer Herrschaft vereinen – also das Kalifat wiederherstellen. Der politische Islam hat viele Akteure. Ich versuche auf jene aufmerksam zu machen, die der deutsche Verfassungsschutz als legalistische Islamisten bezeichnet. Sie streben mit legalen Mitteln einen Systemwechsel an. Das haben wir etwa im Iran der 1970er Jahre erlebt: Politische Islamisten suchen sich politische Verbündete, geben vor, Korruption zu bekämpfen, und wenn sie an der Macht sind, ändern sie die Verfassung, um ihre Macht zu zementieren. Auch in Ägypten, Gaza, Afghanistan ist der politische Islam so vorgegangen.

Welche Ziele verfolgt der politische Islam in Europa?

Mansour Die Akteure in Europa wissen natürlich, dass sie nicht morgen einen Systemwechsel herbeiführen können. Aber sie wollen mehr Einfluss – vor allem auf die Muslime, aber auch auf die Politik, um zum Beispiel im Nahen Osten konservative Kräfte zu unterstützen. Vertreter des politischen Islam in Europa versuchen, Zugang zu den Bildungssystemen zu bekommen, konservativen Islamunterricht anzubieten und sich in die Integrationsarbeit einzuschalten. Nach außen geben sie sich demokratisch und liberal, nach innen predigen sie konservativ islamische Inhalte.

Sprechen Sie von Organisationen wie der Türkei-nahen Ditib oder von Einzelpersonen?

Mansour Es gibt Moscheevereine, Organisationen und einzelne Akteure, etwa Journalisten mit Migrationshintergrund, die vorgeben, für die Meinungsfreiheit einzutreten, in ihrer Arbeit aber einseitig den konservativen Islam als durchweg positiv darstellen. Sie benennen keine Probleme und versuchen kritische Muslime zu delegitimieren. Der politische Islam in Deutschland ist kein einheitlicher Komplex, das macht es schwieriger, diese Akteure zu erkennen.

Es gibt die legitime Forderung vieler Muslime in Deutschland nach mehr Teilhabe und Wertschätzung. Wie lässt sich unterscheiden zwischen diesem Anliegen und den Einflussversuchen des politischen Islam?

Mansour Natürlich geht es mir nicht darum, politisch interessierte Muslime, die mitgestalten wollen, zu delegitimieren. Im Gegenteil! Sie haben das Recht dazu, sollen sich einbringen, als Muslim in Deutschland versuche ich ja selbst mitzugestalten. Politische Islamisten geben sich in ihren wahren Zielen zunächst nicht zu erkennen, diese Verschleierung ist Teil ihrer Strategie. Darum ist es Aufgabe des Verfassungsschutzes, bestimmte Verbindungen zu beleuchten. Der Staatsschutz tut das auch und warnt vor gewissen Akteuren und Vereinen, aber viele Politiker nehmen das nicht ernst. Sie reagieren auch nicht auf Signale, die für alle erkennbar sind. Wenn Islamvertreter etwa Themen wie das Kopftuchtragen besetzen und Kritik am Kopftuch als islamophob bezeichnen. Oder wenn sie pauschal auf „dem Islam“ als Bereicherung beharren und einen kritischen Diskurs ablehnen. Das wichtigste Erkennungsmerkmal ist Doppelmoral: Wenn sich Moscheeverein nach außen liberal verkaufen, nach innen aber Frauen unterdrücken oder Homosexualität verteufeln.

Für Außenstehende ist das aber oft schwer einzuschätzen.

Mansour Ja, aber es geht auch um falsche Toleranz. Wenn Politiker die Verfassungsschutzberichte ernst nähmen, gäbe es keinen Muezzinruf an einer Ditib-Moschee in Köln, es gäbe keinen „Bericht gegen antimuslimischen Rassismus“ in Berlin, der von Akteuren lanciert wurde, die den Muslimbrüdern nahestehen. Es gäbe keine islamische Gefängnisseelsorge betrieben von Islamic Relief, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, würde nicht als „Papst der Muslime“ gefeiert und die WM in Katar würde nicht verteidigt. Dass die Strukturen und Verbindungen des politischen Islam in Deutschland so oft verkannt werden, ist auch ein Zeichen für das Desinteresse an Muslimen. Menschen im öffentlichen Leben wollen sich weltoffen in Szene setzen, dann gibt es das Foto mit Islamvertretern zum Fastenbrechen oder ein Abendessen während des Wahlkampfs, aber es wird nicht genau hingesehen, mit wem man sich ablichten lässt. Es gibt so viele Muslime in Deutschland, die mit dem politischen Islam nichts am Hut haben. Aber gerade Menschen in der Öffentlichkeit landen immer wieder bei denselben, fragwürdigen, selbsternannten Islamvertretern. Im Umgang etwa mit der AfD ist die Sensibilität viel größer.

Ist es nur Desinteresse oder gibt es auch die Angst, etwa bei Politikern, dass sie als islamophob bezeichnet werden, wenn sie zu bestimmten Islamvertretern auf Distanz gehen?

Mansour Diese Angst ist neu, und sie ist ein Zeichen dafür, wie der politische Islam in Deutschland schon verfängt. Wir wissen aus Frankreich, dass es so weit kommen kann, dass lokale Politiker sich überhaupt nicht mehr trauen, das Demokratiedefizit in gewissen Moscheevereinen zu thematisieren, weil sie am nächsten Tag einen Shitstorm erleben, als islamfeindlich und rassistisch diffamiert werden. Dahin dürfen wir nicht kommen. Darum erwarte ich von politischen Vertretern in diesem Land, dass sie den Mut haben, Missstände anzusprechen, wenn sie merken, dass die Demokratie unterwandert wird. Wenn mir Menschen sagen, sie seien gegen Rechtsextremismus und arbeiten zugleich mit Akteuren des politischen Islam zusammen, dann kauf ich ihnen ihr Engagement nicht ab. Es spielt am Ende auch rechten Kräften in die Hände. Die prangern nämlich manchmal zu Recht Missstände an, natürlich um ihre eigene Agenda zu verfolgen. Doch sollte das die Gesellschaft nicht davon abhalten, sich mit den Fakten zu beschäftigen und sie nicht leugnen, weil sie von Rechten vorgetragen wurden. Das ist kindisch.

Über den Muezzinruf an der Ditib-Moschee in Köln hat es Diskussionen gegeben, aber im Namen der Religionsfreiheit wurde für den Ruf entschieden.

Mansour Ich sehe das kritisch. Die Freiheit stirbt in kleinen Schritten. Erst werden Tatsachen geschaffen, dann ist es irgendwann nicht mehr möglich, darüber noch zu diskutieren. So funktioniert der politische Islam. Er macht die Diskussionsräume enger und enger. Wir werden erleben, dass es in Köln nicht bei einem Muezzinruf am Freitag bleiben wird. Und wenn neue Forderungen kommen, wird es wieder heißen, nur Populisten seien dagegen. Der Islam gehört zu Deutschland, aber auch die Kritik am Islam gehört zu Deutschland – als Teil der Demokratie. Ich bin nicht gegen Vielfalt. Ich bin gegen das Sichtbarmachen von Religion in der Öffentlichkeit, gegen die naive Wertschätzung von Akteuren des politischen Islam, gegen die Verharmlosung von Ditib, aber natürlich nicht gegen den Islam an sich. Ich bin selbst Muslim. Und es stimmt mich traurig, wie wenig Menschen bereit sind, eine aufklärerische, kritische Haltung gegenüber dem Islam auch öffentlich zu unterstützen. Dabei müsste das in einem demokratischen Land selbstverständlich sein.

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