20 Jahre US-Angriff auf den Irak Der verlogene Krieg
Nur das Attentat auf das World Trade Center kann den Angriffskrieg der USA auf den unbeteiligten Irak erklären. Die fatalen Folgen: Die Vereinigten Staaten verloren ihr moralisches Fundament.
Amerika stand unter Schock. Der Angriff islamistischer Terroristen am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York traf mitten ins Herz der einzig noch verbliebenen Supermacht. Die verwundete Nation musste reagieren – und tat es in einer „Mischung aus Alarmismus, Selbsttäuschung und Allmachtsphantasien“, wie es der Politikwissenschaftler Stephan Bierling in seiner „Geschichte des Irakkriegs“ ausdrückte. Die Folge war ein Angriffskrieg auf einen beliebigen Gegner – eher untypisch in der Historie der wichtigsten Demokratie der Welt. Aber der Irak, den die USA attackierten, war der ideale Feind. Ein skrupelloser Diktator, der Zehntausende hatte umbringen lassen, stand an der Spitze des Landes. Man konnte ihn und seinen Herrschaftsapparat perfekt verdächtigen, eine Terrororganisation zu unterstützen, die den Westen zerstören wollte. Und er war mit einer gezielten Aktion schlagbar. Dass die Beweise für eine Verbindung zum Terrornetzwerk al Kaida äußerst dürftig waren, wurde einfach zur Seite gewischt. Die Administration von US-Präsident George W. Bush wollte diesen Krieg. Getarnt als „präemptive Aktion“, also als Schlag gegen einen Feind, der jederzeit angreifen könnte, war es in Wirklichkeit ein Machtkrieg, um die Verhältnisse im Nahen und Mittleren Osten im Interesse der Vereinigten Staaten zu ordnen. Der Feldzug entwickelte sich allerdings zum gigantischen Fehlschlag und mit zwei Billionen Euro, mehr als der Hälfte des jährlichen deutschen Bruttoinlandsprodukts, zum teuersten Krieg aller Zeiten.
In diesen Tagen jährt sich der Irak-Krieg zum 20. Mal. In der Nacht vom 20. auf den 21. März 2003 überquerten 245.000 US-Soldaten sowie 45.000 britische Armeeangehörige zusammen mit kleineren Verbänden anderer Länder die Grenze zum Irak. Schon am 9. April standen die US-Panzer auf dem zentralen Firdos-Platz in Bagdad. Am 14. April erklärte Bush den Krieg für beendet. Und am 1. Mai inszenierte sich der oberste Befehlshaber der US-Streitkräfte publikumswirksam auf dem Flugzeugträger „Abraham Lincoln“, wo er die berühmten Worte „Mission Accomplished (Auftrag erfüllt)“ sprach. Der Sieg der Amerikaner war vollständig. Der ZDF-Nahostkorrespondent Ulrich Tilgner, der während der gesamten Operation vor Ort berichtete, war beeindruckt von der Präzision und dem gezielten Vorgehen der amerikanischen Armee.
Mit schweren Bombardements auf die irakische Hauptstadt Bagdad verbreitete die hochüberlegene US-Luftwaffe „Angst und Schrecken (Shock and Awe)“. Gleich am ersten Tag zerstörten die Truppen der Vereinigten Staaten die gesamte Kommunikationsstruktur des Feindes. Die Armee des irakischen Diktators Saddam Hussein war damit völlig kopflos und konnte nicht geordnet agieren. Die logische Folge: Selbst die dem Herrscher ergebenen Milizen und Republikanischen Garden verweigerten die Gefolgschaft und ergaben sich. Die Amerikaner hatten ihr Ziel erreicht, den Diktator gestürzt und konnten sich nun an die Neuordnung des Mittleren Ostens machen – mit dem ölreichen Irak als neuer Basis.
Und doch war es ein schaler Sieg. Schon die Voraussetzungen für diesen Krieg waren dazu angetan, die USA in ein schiefes Licht zu rücken. Zwar versuchte Bush im Westen, eine breite Allianz für den Angriff auf den Irak zu schmieden. Doch er scheiterte. Zwei der drei wichtigsten Verbündeten, Deutschland und Frankreich, verweigerten die Gefolgschaft. Der damalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) stritt sich mit dem amerikanischen Verteidigungsminister und Hardliner Donald Rumsfeld bei der Sicherheitskonferenz in München noch am 8. Februar 2003. „I am not convinced (ich bin nicht überzeugt)“, schleuderte der deutsche Chefdiplomat dem wichtigsten Minister Bushs entgegen. Drei Tage zuvor hatte US-Außenminister Colin Powell vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen „Beweise“ für die Beteiligung Saddam Husseins am Terroranschlag präsentiert: Nervengas, Waffenverstecke, verborgene Raketenstartrampen, Gefechtsköpfe für Chemiewaffen und mobile Labors mit biologischen Kampfstoffen. Sogar ein irakischer Chemieingenieur bezeugte die Verstrickungen des Diktators. Alles Lügen, wie Powell selbst schon 2004 einräumte. Den Auftritt bezeichnete der erste schwarze Generalstabschef und Außenminister selbst als „Schandfleck“ in seiner Karriere.
Doch Powell stand nicht allein. Auch die Demokraten, allen voran die spätere Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, und auch der jetzige Präsident Joe Biden stimmten für den Irak-Krieg. „Es gab in den Vereinigten Staaten zu dieser Zeit keine richtige Gegenmeinung von Gewicht. Das kritiklose Gruppendenken war zu stark ausgeprägt. Das Ganze war ein kollektiver Fehlschluss“, meint Markus Kaim, Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Obendrein spaltete der Krieg das westliche Bündnis. Die „Koalition der Willigen“, wie Bush seine Unterstützer nannte, zählte auf dem Höhepunkt 42 Länder, darunter 15 Nato-Staaten. Wichtigster Helfer war der britische Premierminister Tony Blair, der mit seiner Kriegsbereitschaft einen Top-Berater des Verteidigungsministeriums in den Tod trieb, weil er ihn als Kronzeugen für Manipulationen der Londoner Regierung heftig drangsalieren ließ. Später zogen der spanische Ministerpräsident José Zapatero und auch Norwegen die Truppen wieder ab. Scharfe Gegner des Krieges waren vor allem der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und der französische Präsident Jacques Chirac. Beide suchten den engen Schulterschluss zu Russlands Präsident Wladimir Putin, der zwar die USA damals im Anti-Terror-Kampf unterstützte, den Krieg im Irak jedoch ablehnte. Auch Schröder hatte unmittelbar nach dem Anschlag in New York und Washington der USA die „uneingeschränkte Solidarität“ zugesichert, die er später nicht einlösen konnte. Rumsfeld beschimpfte die beiden Länder als „altes Europa“, dem er das Beispiel vieler osteuropäischer Unterstützerstaaten wie Polen entgegensetzte.
Doch nicht nur die Spaltung und Entfremdung zwischen den USA und Teilen Europas setzte beim Irak-Krieg ein. Zum regelrechten Desaster wurde der Konflikt, weil die USA keinen Plan für ihre neue Stellung im Mittleren Osten und gerade auch für das Land Irak hatten. Mal ließen sie Plünderungen zu, mal bestraften sie diese hart. Die sunnitische Minderheit und die alte Armee Saddam Husseins blieben sich selbst überlassen, stattdessen setzten die US-Besatzer auf die Schiiten, die sich aber auch eng an den alten Todfeind der Amerikaner, den Mullah-Staat Iran, anschlossen. Schnell erschütterten Chaos, Hunger, Terror und ethnische wie religiöse Auseinandersetzungen das Land. Fast 200.000 Menschen kamen in diesem Konflikt ums Leben, die meisten der 4804 getöteten US-Soldaten erlitten ihr Schicksal nach dem Sieg. „Nach einer militärischen Intervention und einem Erfolg muss das Ziel für das betroffene Land klar sein“, sieht der Politikwissenschaftler Kaim als eine der Lehren dieses Krieges. Klar ist: Das war zu keinem Zeitpunkt der Fall.
Der Angriffskrieg der Amerikaner hat nicht nur unendliches Leid über die Region gebracht. Er hat auch die Reputation der amerikanischen Demokratie und ihre weltgeschichtliche Mission erschüttert. Die Entfremdung zwischen den USA und ihren Verbündeten auf dem europäischen Festland macht sich ebenfalls an diesem unnötigen und unmoralischen Krieg fest. „Es gab keine Rechtfertigung für diesen Krieg“, ist der Sicherheitsexperte Kaim überzeugt. Die Parallelen zum Ukraine-Krieg des russischen Diktators Wladimir Putin drängen sich geradezu auf. Doch Vorsicht: Es gibt Unterschiede. Die USA sind nach wie vor eine Demokratie. Nachfolgende Regierungen wie unter Barack Obama und Joe Biden haben die verheerenden Folgen zumindest teilweise korrigiert. Und die Ukraine war auf dem Weg zu einer Demokratie, während im Irak ein blutrünstiger Diktator herrschte. Aber der Makel bleibt: Dass die großen Vereinigten Staaten ein letztlich unbeteiligtes Land angegriffen haben, hat ihre moralische Ausnahmestellung als globale Weltmacht unterminiert. Die Folgen sind noch heute zu spüren.