Reform des Wahlrechts Es geht um die Existenz, viele Abgeordnete bangen
Berlin · Der Bundestag zu groß, das Wahlrecht zu kompliziert. Endlich wagen sich die Parteien an eine Reform des Wahlrechts. Der Bundestag soll deutlich verkleinert werden. Eine Partei sperrt sich gegen die Reformpläne besonders: die bayerische CSU, die um Stimmen und Einfluss fürchten muss
Hinten ist noch Platz, sehr viel Platz. Hunderte Abgeordnete sind an diesem Freitagmittag nicht mehr da – eventuell schon auf dem Weg ins Wochenende. Oder sie verfolgen die Debatte aus ihren Büros. Worum geht es in diesen 82 Minuten? Um viel. Für knapp 140 Abgeordnete könnte die nackte parlamentarische Existenz auf dem Spiel stehen. Jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete des Hohen Hauses wird gefragt sein. Es geht sie alle an – höchstpersönlich. In ihren Wahlkreisen wie auch im Plenum.
Vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages liegt ein Gesetzentwurf zur Änderung des Wahlrechts, erste Lesung, eingebracht von den Fraktionen der Ampel-Koalition. Man könnte annehmen, die Fraktionsbänke seien gut besetzt, vielleicht nicht bis auf den letzten Platz, aber doch großes Interesse. Vorne haben die Fraktionen für die Kameras ihre ersten fünf bis sechs Reihen gut aufgefüllt, aber dahinter eben leere Stühle. Vielleicht werden es in der zweiten und dritten Lesung mehr. 736 Abgeordnete hat der Bundestag. Das Plenum dieser 20. Legislaturperiode ist der größte Bundestag der Geschichte, mit jeder Wahl durch Überhang- und Ausgleichsmandate nochmals gewachsen. Deutschland hat damit eines der größten nationalen Parlamente weltweit.
Aber das soll nun anders werden. Die Ampel-Fraktionen werden ihren Gesetzentwurf in der Debatte gleich erklären, auch loben und würdigen. Die Vertreter vor allem der Unionsfraktion wollen den Vorschlag am liebsten zum Parlaments-TüV schicken, schließlich muss gerade die CSU um einen massiven Stimmenverlust fürchten, wenn die Ampel ihren Entwurf durchbringt. CDU und CSU haben keinen eigenen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vorgelegt. Sie gehen mit einem schlichten Antrag auf Verkleinerung des Bundestages in die Debatte, eine Art „Selbstverpflichtung des Bundestages“, wie es Grünen-Wahlrechtsexperte Till Steffen formuliert. Was die Union damit bewirke? „Gar nichts“, sagt Steffen. Alles bliebe, wie es ist.
Vor allem die CSU ist auf dem Baum, seit sie die Vorschläge der Ampel für eine Wahlrechtsreform gelesen hat. Danach soll der Bundestag von heute 736 Abgeordneten künftig wieder auf eine Normgröße von 598 Mandatsträger geschrumpft werden. Nach den Plänen der Ampel soll es künftig keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr geben. Die Größe des Bundestages soll allein durch die bisherige Zweitstimme, die künftig Hauptstimme heißen soll, bestimmt werden. Dies kann zur Folge haben, dass Abgeordnete, die ihren Wahlkreis direkt gewinnen, in einem nächsten Bundestag trotzdem nicht mehr vertreten sind. CSU-Generalsekretär Martin Huber sprach schon von „organisierter Wahlmanipulation“ und ätzte, die Methoden der Ampel-Koalition ähnelten denen von „Schurkenstaaten“. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt fürchtet um die Wucht der Erststimme, schließlich gewinnt die CSU in Bayern regelmäßig alle Wahlkreise. Doch nach den Reformplänen der Ampel dürfte sie nur noch so viele Abgeordnete in den Bundestag schicken wie ihr Anteil am Zweitstimmenergebnis ist: 5,2 Prozent waren es 2021, bei 45 Direktmandaten. Die SPD-Abgeordnete Marianne Schieder, die selbst aus Bayern kommt, hält der CSU zu deren Reformplänen mit einem Satz von Karl Valentin den Spiegel vor: „Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.“ Für SPD-Innenpolitiker Sebastian Hartmann ist die Reform ein Beleg dafür, dass „wir als Verfassungsorgan reformfähig sind“. Es gehe auch darum, die „Privilegien einzelner Gruppen“ abzubauen. Ein Seitenhieb gegen die CSU. 34 Überhang- und 104 Ausgleichsmandate dieses Bundestages seien einfach zu viel. Für die Union ärgert sich CDU-Wahlrechtsexperte Ansgar Heveling über das „Kappungsmodell“ der Ampel, bei der Abgeordnete, obwohl sie ihren Wahlkreis direkt gewonnen haben, am Ende nicht im Bundestag vertreten sein könnten. Was dies wohl noch mit „Bürgerstimme“, wie die Erststimme heißen soll, zu tun habe, wenn der Wille des Bürgers dann nicht mehr umgesetzt werde?, fragt Heveling. Auch CDU-Mann Philipp Amthor ärgert sich: „Wahlkreise ohne Wahlkreissieger haben diesen Namen nicht verdient.“ FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle hat dann für manchen Langzeit-Abgeordneten noch eine Botschaft parat. Alle mal herhören: „Parlamentarische Demokratie ist ein Mandat auf Zeit.“